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FR vom 17.03.2006 (gescannt)
Zwischen Dürre und Flut

In Indien droht eine Wasserkrise, ein riesiges Projekt zur Vernetzung der Flüsse soll Abhilfe schaffen - Umweltschützer warnen davor.

Ein Monat bevor der Hurrikan „Katrina" die Stadt New Orleans in den USA verwüstete, überschwemmte auf der anderen Seite des Erdballs ein ungewöhnlich heftiger Monsunregen die 15-Millionen-Metropole Bombay. Innerhalb von 24 Stunden fiel ein Niederschlag wie in Deutschland im ganzen Jahr. Die Stromversorgung brach zusammen, alle Mobiltelefone verstummten. Indiens größte Stadt, Wirtschaftsmotor einer Nation von mehr als einer Milliarde Menschen, stand still. Nach offiziellen Angaben starben an diesem 26. Juli des vergangenen Jahres 736 Menschen.

Zur selben Zeit litten gut tausend Kilometer nördlich, in der Wüste von Rajasthan, die Menschen unter einer Dürre. Im Dorf Sohela blockierten Tausende von Bauern einen Highway und forderten mehr Wasser aus einem Staubecken für ihre Felder. Polizisten eröffneten das Feuer und töteten fünf Bauern. „Wir wollten nur Wasser, stattdessen bekamen wir Kugeln", sagt Har Narayan, einer der protestierenden Bauern.

Dürren und Überschwemmungen sind Vorboten einer Wasserkrise, die sich in Indien immer bedrohlicher abzeichnet. Weil

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Eines der größten Wasserbauvorhaben der Welt soll fast alle großen Flüsse des indischen Subkontinents vernetzen
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Bauern und Stadtbewohner unkontrolliert viele Tiefbrunnen bohren, sinkt fast überall der Grundwasserspiegel. Kaum eine größere Stadt oder Industrieansiedlung verfügt über effiziente Klaranlagen.

Selbst der heilige Ganges gleicht über weite Strecken einer stinkenden Kloake. Im Zuge großer Bewässerungsprojekte sind viele Flüsse so intensiv aufgestaut worden, dass an der Mündung kaum noch Wasser fließt. Salziges Meerwasser strömt landeinwärts und verdirbt fruchtbare Böden.

Während vielerorts das Wasser knapp wird, wächst der Bedarf rasch weiter. Rund 70 Prozent des zur Verfügung stehenden Süßwassers wird in der Landwirtschaft verbraucht.

Um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren, muss die Fläche bewässerten Ackerlandes ständig vergrößert werden. Doch die durch vollmundige Versprechen aus Politikermund genährte Hoffnung auf mehr Wasser schürt neue Konflikte.

Im Norden Indiens annulliert die Regierung der wasserreichen Provinz Punjab einen Vertrag und weigert sich, einen Kanal fertig zu stellen, durch den Wasser in den Nachbarstaat Haryana fließen könnte. „Für mich zählt in erster Linie das Schicksal von 1,6 Millionen Punjabis, die an den Rand des Existenzminimums gedrängt würden, wenn wir das Wasser mit den Nachbarn teilen", tönt Chefminister Amarinder Singh, der unter dem Druck der Bauernverbände steht.

Im Süden streiten die Bundesstaaten Karnataka und Tamil Nadu seit Jahren erbittert ums Wasser des Cauvery-Flusses, der beide Staaten durchquert. Wasserkonflikte schwelen auch zwischen Indien und den Nachbarstaaten Pakistan und Bangladesh. Im Zuge des Klimawandels wird sich die Wasserkrise im südlichen Asien noch verschärfen. Wird es bald Krieg ums Wasser geben?

Kaum jemand bestreitet, dass dringender Handlungsbedarf besteht - über das „Wie und Wer" aber tobt eine hitzige Debatte. Vorstöße der Regierung, die unter dem Einfluss der Weltbank die Wasserversorgung teilweise privatisieren will, stoßen auf erbitterten Widerstand in der Bevölkerung.

Religiöse Traditionen und das Gewohnheitsrecht stützen die in der Bevölkerung weit verbreitete Haltung, Wasser sei ein öffentliches, gottgegebenes Gut, das wie die Atemluft jedem Menschen kostenlos zur Verfügung stehen müsse. „Der Staat muss jedem Bürger eine sichere Wasserversorgung garantieren", meint etwa Entwicklungsfachmann Achyut Das.

„Die Regierung kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen und auf die Expertise kommerzieller Versorger verweisen. Das
widerspricht einfach den Verhältnissen hier in Indien." Im zentralindischen Staat Chhattisgarh übertrug die Regierung im Jahr 2003 die Nutzung eines Teilabschnitts des Sheonath-Flusses einer lokalen Firma. Der neue „Besitzer" untersagte den Dorfgemeinschaften am Ufer des Sheonath, Wasser zum Bewässern ihrer Felder zu entnehmen. Monatelange Proteste zwangen die Regierung schließlich, den Vertrag mit dem Unternehmen zu annullieren.

Pläne der Stadtverwaltung von Neu-Delhi, die Trinkwasserversorgung im Süden der Stadt an den französischen Konzern Suez Lyonnaise zu verkaufen, scheitern am breiten Protest von Bürgern, die eine drastische Erhöhung der Tarife befürchten. Im südindischen Kerala blockierten Dorfbewohner monatelang das Fabrik-Tor einer Coca-Cola-Abfüllanlage, weil der Betrieb die Grundwasservorräte der Region dezimierte und eine Dürre heraufbeschwor. „Viele von uns haben bereits die Ernte verloren", klagt einer der Demonstranten.

Seit mehr als 20 Jahren entwickeln Ingenieure und Beamte im Ministerium für Wasserresourcen eines der größten Wasserbauvorhaben der Welt: Die Vernetzung nahezu aller großer Fluss-Systeme des Subkontinents, einschließlich des Ganges und des Brahmaputra.

„Im Prinzip wollen wir überflüssiges Flutwasser, das nutzlos ins Meer fließt, in Staubecken zurückhalten und in Dürregebiete umleiten", erläutert Pensionär Madhav Govind Padhye, der früher als Staatssekretär im Ministerium für Wasserresourcen die ersten Machbarkeitsstudien leitete. „Wenn das Projekt erfolgreich verläuft, werden wir 25 Prozent mehr Wasser zur Verfügung haben -und könnten damit zusätzlich 35 Millionen Hektar Land bewässern."

Schiffbare Kanäle sollen Wasser aus den Flüssen des Himalaya-Gebirges auffangen und parallel zur Ostküste nach Süden leiten. Um die Wassermassen zu speichern, müssten mehr als 100 große Staudämme gebaut werden. Die Gesamtkosten werden mit 12 Milliarden Dollar veranschlagt. Doch Wissenschaftler, Umweltschützer und Bauernverbände mahnen zur Vorsicht und forden detaillierte wissenschaftliche Studien über die Rentabilität des Programms.

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Wasser ist im Überfluss vorhanden - oder so knapp, dass sich Regionen eines Landes oder benachbarte Staaten darum streiten.
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"Die Vernetzung der Flüsse wird katastrophale Folgen haben", warnt Ingenieur Himanshu Thakkar, der in Neu-Delhi das Netzwerk South Asian Network on Dams, Rivers and People leitet. „Das Projekt wird die Flüsse zerstören, außerdem Wälder und Ackerland vernichten. Millionen Menschen müssten vertrieben werden, wenn Land für Staudämme und Kanäle akquiriert wird. Stromabwärts der Dämme wird es zur Wasserknappheit kommen, zur Versalzung der Böden, zur Konzentration von Schadstoffen im Flusswasser und schließlich zur Zerstörung der biologischen Artenvielfalt."

Indien ist einer der führenden Staudammkonstrukteure der Welt. 4291 große Staudämme und die damit verbundenen Bewässerungssysteme helfen, die Getreideproduktion zu steigern und das ehemalige Hungerland von Nahrungsmitteleinfuhren unabhängig zu machen. Aber sie entwurzelten nahezu 40 Millionen Menschen und zerstörten vielerorts das ökologische Gleichgewicht. Heute ruft nahezu jedes neue Staudammprojekt Widerstand unter Anwohnern hervor, die um ihre Lebensgrundlagen fürchten.

Viele Wissenschaftler und Aktivisten setzen heute auf kleinräumige, naturnahe Bewässerungssysteme, die von der Dorfbevölkerung unterhalten werden können. Im Wüstenstaat Rajasthan etwa erweckte der Ingenieur Rajender Singh zusammen mit Dorfbewohnern mit einfacher Technik und ohne viel Geld einen ausgetrockneten Fluss.

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Es gibt Alternativen: kleinräumige, naturnahe Bewässerungssysteme.
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In Maharashtra animierte der Bauernsohn Anna Hazare seine Nachbarn, Bäume zu pflanzen, Gräben auszuheben sowie kleine Wehre und Teiche anzulegen. Innerhalb weniger Jahre füllten sich auf diese Weise die örtlichen Grundwasserspeicher wieder und ermöglichen den Bauern nun eine zweite Ernte im Jahr. Heute hebt sich Hazares Dorf Ralegan Siddhi als grüne Oase von einer braunen Steppenlandschaft ab. Alkoholismus und Kastenkonflikte sind passe, die Abwanderung in die Städte ist gestoppt.

Ingenieur Himanshu Thakkar begreift die Entwicklung von Wassereinzugsgebieten, Englisch: Watershed Development, als Motor für ländliche Entwicklung und die Beseitigung der Armut: „Lokale, traditionelle Wasserbausysteme besitzen ein gewaltiges Potenzial für die ländliche Entwicklung. Wir müssen die Regenfälle an Ort und Stelle auffangen und speichern und so die Grundwasservorräte wieder auffüllen."

Der Diskurs macht vor allem eines deutlich: Die drohende Wasserkrise ist kein rein technisches oder finanzielles Problem - sondern verlangt auch nach Antworten auf sozioökonomische und ökologische Fragen. Dass Indiens Flüsse trotz vieler Schutzgesetze und Sanierungsprogramme zum Himmel stinken, zeigt, dass auch einheimische Politiker den Stellenwert einer effizienten Wasserversorgung noch nicht erkennen.