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Mit Riesenschritten auf dem Weg in den Überwachungsstaat

Das Sicherheitspaket der Bundesregierung: Schutz oder Gefährdung der Demokratie?/ Von Martin Kutscha

Im Bundeskabinett steht am heutigen Mittwoch die Beschlussfassung über das so genannte Sicherheitspaket II auf der Tagesordnung. Ihm zufolge sollen künftig zum Beispiel Fingerabdrücke im Personalausweis gespeichert werden können. Nützen oder schaden verschärfte Sicherheitsregeln der Demokratie und der Entwicklung der Zivilgesellschaft, fragt der Berliner Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Martin Kutscha. Er kommt zu dem Schluss: Wer mehr Sicherheit mit weniger Freiheit erkaufen will, unterliegt einem fatalen Irrtum. Wir dokumentieren Martin Kutschas Analyse im Wortlaut.

1.

Ein vertrautes Handlungsmuster

Am 23. März des Jahres 1819 ermordete der Student Karl Ludwig Sand in Mannheim den im Dienst der russischen Regierung stehenden Dichter Kotzebue. Fürst von Metternich, österreichischer Staatskanzler und Hauptakteur der reaktionären "Heiligen Allianz", schrieb schon wenige Tage später in einem Brief, er wolle den Anlass ausnutzen, den "der vortreffliche Sand auf Kosten des armen Kotzebue geliefert" habe. Dies tat von Metternich denn auch.

Gegen den Widerstand einzelner Bundesstaaten konnten nunmehr die "Karlsbader Beschlüsse" zur Unterdrückung der oppositionellen Bewegung durchgesetzt werden. Diese Beschlüsse ermöglichten die Formierung der Universitäten u. a. durch Einsetzung eines Staatskommissars, die Knebelung der oppositionellen Presse sowie die Einrichtung einer "Centralbehörde zur nähern Untersuchung der in mehreren Bundesstaaten entdeckten revolutionären Umtriebe". Damit begann das dunkle Kapitel der "Demagogenverfolgung" in Deutschland.

Auch in der jüngsten deutschen Geschichte hat sich das hier erkennbare politische Handlungsmuster mehrfach wiederholt. Vor allem die Terroranschläge der RAF in den siebziger Jahren, später dann die "organisierte Kriminalität" dienten als Anlass für immer neue Wellen von "Sicherheitsgesetzen", mit denen die Eingriffsbefugnisse von Polizei und Geheimdiensten Schritt für Schritt ausgeweitet wurden.

Auch die von Innenminister Schily in den Wochen nach den verheerenden Terrorakten in den USA vorgelegten "Anti-Terror-Pakete" enthalten keineswegs ad hoc entstandene, neue Ideen, sondern viele Überwachungs- und Kontrollinstrumente, die schon lange vorher von Polizeivertretern gefordert worden waren. "Kaum einer der Vorschläge", so die Kritik in einer Erklärung von 16 Bürgerrechtsorganisationen, "hat einen konkreten Bezug zu den Anschlägen - außer jenem, dass sie ohne die zurzeit bei einem Teil der Bevölkerung vorherrschende Angst kaum durchsetzungsfähig wären."

Der Bundesinnenminister erklärte denn auch freimütig: "Die Initiativen, die wir vergangene Woche im Kabinett beschlossen haben, sind nicht erst nach dem 11. September eingeleitet worden."

Nach den Verhandlungen zum "Sicherheitspaket II" rühmten sich die Grünen zwar, die Freiheitsrechte erfolgreich gesichert zu haben. Die wichtigsten Bestandteile des Konzepts blieben jedoch erhalten, der Weg zu mehr Überwachung und weniger Freiheit ist damit vorgezeichnet.

Nach dem gleichen Handlungsmuster wird auch in den USA verfahren: Schon am 11. September, als die Trümmer des World Trade Centers noch brannten, installierten FBI-Beamte bei vielen US-amerikanischen Internet-Betreibern die Überwachungssoftware "Carnivore". Zuvor war eine solche Kontrolle des Internet durch amerikanische Sicherheitsbehörden politisch nicht durchsetzbar gewesen.

2.

Aktuelles Beispiel: die Rasterfahndung

Mit den enormen Innovationen der Informations- und Kommunikationstechnologie haben sich auch die Möglichkeiten technischer Überwachung von Menschen erheblich erweitert. So wäre z. B. die momentan in großem Stil betriebene polizeiliche Rasterfahndung gar nicht möglich, wenn nicht die Bevölkerung der Bundesrepublik in einer Vielzahl elektronisch geführter Dateisysteme erfasst wäre - von den Personalabteilungen der Unternehmen über die Universitätsverwaltungen und andere Behörden bis hin zu Banken, Versicherungen, Stromkonzernen und Telefongesellschaften.

Das Prinzip der Rasterfahndung, mit magerem Erfolg schon bei der Suche nach RAF-Mitgliedern eingesetzt, besteht in der Umkehrung der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung: Jeder, dessen Daten in die Rasterung einbezogen werden, gilt erst einmal als grundsätzlich verdächtig. Er mag sich noch so rechtstreu verhalten haben - falls in seiner Person zufällig mehrere der Suchkriterien erfüllt sind, muss er mit möglicherweise unangenehmen und stigmatisierenden Maßnahmen der Polizei wie z. B. einer Hausdurchsuchung rechnen.

Dabei verspricht diese Methode überhaupt nur dann Erfolg, wenn die gesuchten Kriminellen dem bei der Rasterfahndung zu Grunde gelegten Täterprofil genau entsprechen. Das Vorgehen z. B. in Berlin zeigt indessen, dass häufig statt kriminalistischem Scharfsinn blinder Aktionismus herrscht.

So beschloss das Amtsgericht Tiergarten auf Antrag des Landeskriminalamts Berlin am 20. September die Rasterfahndung nach einer Personengruppe, die kumulativ die folgenden Kriterien erfüllen sollte: "islamische Religionszugehörigkeit ohne nach außen tretende fundamentalistische Grundhaltung, . . . keine Auffälligkeiten im allgemeinkriminellen Bereich, . .. rege Reisetätigkeit, . . . finanziell unabhängig, . . . Flugausbildung". Die Polizei hatte schlicht das vom FBI für die so genannten "Schläfer" angenommene Täterprofil abgeschrieben, und auch das Gericht - dem ja eigentlich die genaue rechtsstaatliche Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen für diese Maßnahme obliegt - hatte nicht bedacht, dass solche Informationen über die Privatsphäre in den meisten der Dateien von Arbeitgebern, Universitätsverwaltungen usw. gar nicht gespeichert sind.

Einen Tag später bemerkte man die "Panne". Das Amtsgericht Tiergarten korrigierte seine Entscheidung und erweiterte die zu rasternde Personengruppe erheblich. Sie sollte jetzt nur noch die Eigenschaften "vermutliche islamische Religionszugehörigkeit und vermutlich legaler Aufenthaltsstatus in Deutschland" erfüllen. Gleichwohl hatte die Polizei auch Wochen später noch keine Treffer vorzuweisen. Dagegen wurden mehrere Unschuldige, wie der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland klagte, teils auf Grund von Namensgleichheiten mitten in der Nacht zum Verhör abgeholt und bis zu drei Tage lang festgehalten.

3.

Die Überwachung der

Telekommunikationsnetze

Zwar können wir davon ausgehen, dass wegen des erheblichen technischen Aufwandes das Instrument des Lauschangriffes auf Wohnungen gegenwärtig nur selten eingesetzt wird. Die weitaus einfachere Überwachung des Telefonverkehrs hat sich in Deutschland in den letzten Jahren jedoch "zu einem der zentralen Instrumente der Informationsbeschaffung der Sicherheitsbehörden entwickelt. Sie gilt als ein effektives und zugleich kostengünstiges Instrument der Sicherheitspolitik" . Die Steigerung bei der Anzahl der richterlichen Anordnungen zur polizeilichen Telefonüberwachung ist in der Tat beeindruckend: Gab es im Jahre 1995 erst 4674 solcher Anordnungen, betrug deren Anzahl im Jahre 1999 bereits 12 651. Es kommt hinzu, dass Telefongespräche auf der Grundlage des (im Mai 2001 mit den Stimmen der Regierungskoalition verschärften) "Gesetzes zu Artikel 10" (G 10) auch vom Verfassungsschutz und vom BND eifrig belauscht werden.

Die Telefonüberwachung beschränkt sich keinesfalls auf das bloße Abhören bzw. Aufzeichnen der von bestimmten Anschlüssen aus geführten Gespräche. Durch die Digitalisierung der Telekommunikation lässt sich inzwischen auch nachträglich feststellen, wer wann mit wem telefoniert hat. Zu Zeiten der analogen Vermittlungstechnik war dies noch nicht möglich - nach seiner Beendigung hinterließ ein Telefongespräch außer der Anzahl der Zeiteinheiten keine elektronischen Spuren.

Wer ein Handy benutzt, ermöglicht es damit der Polizei, Bewegungsbilder zu erstellen, indem die Meldungen der Funkzellen entsprechend ausgewertet werden. Die Rechtsprechung hat diese Praxis im Rahmen der Strafverfolgung gebilligt. Zu Recht kritisiert ein Datenschutzbeauftragter, dass die Telekommunikationsnetze ihren Charakter verändern, indem sie massenhaft Informationen sowohl über die Kommunikationsinhalte als auch über Aufenthaltsorte und andere Begleitumstände erzeugen und für die Sicherheitsbehörden bereithalten.

Wie in den USA weckt die massenhafte Nutzung des Internet auch in Deutschland staatlichen Überwachungseifer. Schon im November 2000 forderten die Innenminister von Bund und Ländern eine gesetzliche Verpflichtung der Provider und der Betreiber von Servern, alle IP-Adressen und weiteren Daten der Internetnutzer zu protokollieren und für Ermittlungszwecke aufzubewahren. Es versteht sich, dass Schily diese Forderung jüngst wieder aufgriff und die Verabschiedung einer neuen "Telekommunikationsüberwachungsverordnung" durch die Bundesregierung durchsetzte, auch wenn dabei noch einige für die Internet-Provider Kosten sparende Änderungen vorgenommen wurden.

Nur wenige Nutzer des Internet wissen, wie viele - bei entsprechendem Technikeinsatz gezielt auswertbare - Datenspuren sie bei jedem Mausklick hinterlassen. Längst werden von kommerziellen Unternehmen mit Hilfe von Techniken wie data-mining detaillierte Konsumentenprofile der persönlichen Neigungen und Vorlieben von Internet-Nutzern erstellt. Dass auch Geheimdienste an solchen Informationen über die Individualsphäre interessiert sind, liegt auf der Hand.

Die Notwendigkeit einer Überwachung des Internet bzw. des E-Mail-Verkehrs durch die Sicherheitsbehörden wird damit begründet, dass auf diese Weise weltweit agierende Terroristen aufgespürt werden könnten. Dabei wird allerdings übersehen, dass sich intelligente Straftäter bei ihrer elektronischen Kommunikation wirksamer Methoden der Verschlüsselung oder des Versteckens brisanter Nachrichten in unverfänglichen Bildern (Steganografie) bedienen, das Entdeckungsrisiko somit äußerst gering ist. Wer dagegen auf die Respektierung des Telekommunikationsgeheimnisses durch staatliche Stellen vertraut und seine Nachrichten unverschlüsselt versendet, kann überwacht und ausgeforscht werden. Betroffen von der Anwendung der neuen Überwachungsbefugnisse sind mithin, wie der Datenschutzrechtler Andreas Pfitzmann feststellt, "brave Bürger" und "Kriminelle, die so dumm sind, dass sie Selbstschutzmechanismen nicht nutzen".

4.

Identifikation durch Biometrie

Auch andere Bestandteile der aktuellen "Sicherheitspakete" sind eher zur Überwachung "normaler", sich rechtstreu verhaltender Bürger als zur Ermittlung von Terroristen geeignet. Dies gilt insbesondere für die geplante Aufnahme biometrischer Daten wie Fingerabdrücke und Angaben zur "Hand- und Gesichtsgeometrie" in Pässe und Personalausweise. Wie auf diese Weise "islamistische" Terroristen aufgespürt werden sollen, bleibt unerfindlich, da diese bei der Einreise im Regelfall ausländische Pässe vorlegen dürften.

Die Abnahme von Fingerabdrücken gehört zu den klassischen erkennungsdienstlichen Maßnahmen, die bisher nur gegen Straftatverdächtige, Asylsuchende und Ausländer mit zweifelhafter Identität oder Staatsangehörigkeit ergriffen werden durfte. Die daktyloskopische Erfassung der gesamten Bevölkerung der Bundesrepublik kann mithin nur als Ausdruck eines Generalverdachts gewertet werden.

Vor allem der Plan einer Erfassung und Speicherung der Gesichtsgeometrie aller Bundesbürger und -bürgerinnen macht freilich Sinn vor dem Hintergrund zunehmender Videoüberwachung von Plätzen in Großstädten, von Kaufhäusern, Banken etc. Die technischen Verfahren zur automatischen Gesichtserkennung anhand biometrischer Vergleichsdaten sind inzwischen weit fortgeschritten. So berichtete der Spiegel im Oktober 2001 z. B. über die Kamera-Software "Face Snap" der Bochumer Firma C-Vis sowie die Überwachungspraxis im Londoner Stadtteil Newham: Dort wurden allein 247 Videokameras installiert. Anhand biometrischer Daten der Gesichter von 100 Kriminellen werden die Aufnahmen elektronisch ausgewertet, und bei Erscheinen dieser Personen wird Alarm ausgelöst .

Durch den flächendeckenden Einsatz einer solchen Technologie lassen sich in Zukunft Menschen in öffentlichen Räumen, auf öffentlichen Plätzen usw. gezielt überwachen. Anhand der zwangsweise erhobenen Daten zur Gesichtsgeometrie lässt sich so künftig per Computer feststellen, wer welchen Weg in der Stadt zurücklegt und welches Geschäft er dabei besucht, aber auch, wer an welcher Demonstration teilnimmt, mit wem er dabei spricht usw. Der Überwachungsstaat Orwellscher Prägung würde damit düstere Realität.

Außerdem aber wird hier deutlich, dass es beim Einsatz von Videokameras zur Überwachung öffentlicher Plätze nicht nur um die Frage geht, ob dieser überhaupt ein verhältnismäßiges Mittel zur Eindämmung von Kriminalität ist. Solche und andere Formen staatlicher Überwachung beeinträchtigen nämlich zugleich auch den demokratischen Prozess in gravierender Weise.

5.

Überwachung und Demokratie

"Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist."

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner hier zitierten Volkszählungsentscheidung von 1983 richtig erkannt, dass der freie demokratische Prozess auch die Freiheit vor staatlicher Überwachung und Kontrolle voraussetzt. Ein demokratischer Verfassungsstaat muss also nicht nur die Grundrechte der freien politischen Kommunikation wie die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit respektieren, sondern auch die auf den Schutz der Privatsphäre zielenden Grundrechte, um einen offenen demokratischen Meinungsstreit ohne Angst vor Diskriminierung und Verfolgung zu ermöglichen.

Wo aber ein Klima der Überwachung und Bespitzelung herrscht, kann kein freier und offener demokratischer Prozess stattfinden. Ein omnipräsenter und omniinformierter Staat kennzeichnet denn auch ein diktatorisches System, in dem eine nach den jeweiligen Machtinteressen definierte Staatsraison den Freiheitsrechten der Bürger allemal übergeordnet ist.

Das Gegenmodell des Bundesverfassungsgerichts zum allwissenden totalitären Staat besteht in der Gewährleistung einer "informationellen Gewaltenteilung" und im Postulat eines besonderen grundrechtlichen Schutzes vor unbegrenzter Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten. Diesen Schutz soll das Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" leisten, das freilich auch nicht unbeschränkt gelten soll.

Zur Beschränkung dieses Freiheitsrechts, so das Gericht, bedarf es jeweils "einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht" .

Die Gesetzgeber von Bund und Ländern reagierten auf diese höchstrichterliche Vorgabe durch Schaffung einer Vielzahl "bereichsspezifischer" Regelungen über die jeweiligen Voraussetzungen der Datenerhebung, -verarbeitung und -übermittlung durch die verschiedenen öffentlichen Stellen. Wer aber nun eine wirksame Beschränkung des Datensammelns gerade im Bereich der Inneren Sicherheit erwartete, sah sich getäuscht. Durch die exzessive Verwendung von Generalklauseln und die Konstruktion kaum noch überschaubarer Schachteltatbestände in den neuen Gesetzen wurde im Ergebnis eine Entgrenzung des informationellen Handelns erreicht.

6.

Hoffen auf Karlsruhe?

Im Gegensatz zu seinem hehren grundrechtlichen Anspruch hat das Bundesverfassungsgericht der schrittweisen Ausweitung staatlicher Überwachungs- und Kontrollbefugnisse bisher kaum Barrieren entgegengesetzt. Abgesehen von der Volkszählung 1983 wurde die vom Gesetzgeber vorangetriebene Politik der Inneren Sicherheit auf Kosten der Freiheitsrechte im Wesentlichen gebilligt, was kleinere kosmetische Korrekturen nicht ausschloss.

Bei einer der spektakuläreren Entscheidungen, dem so genannten "Abhörurteil" von 1970 zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, gab es immerhin noch geharnischte Kritik in Gestalt des Minderheitsvotums dreier Verfassungsrichter: "Es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt."

Der Beschluss von 1984, der die "strategische Postkontrolle" des BND legitimierte, sowie das Urteil von 1999 zur Überwachung des Telefonverkehrs durch den BND vermittels der "Staubsaugermethode" fanden dann nur noch in der Fachliteratur gebührende Aufmerksamkeit und teilweise Kritik. Angesichts dieser Negativtradition des Bundesverfassungsgerichts bleibt nur eine geringe Hoffnung, dass die Einführung des strafprozessualen Lauschangriffs im Jahre 1998 sowie die Umsetzung der aktuellen Pläne auf ein entschiedenes Veto in Karlsruhe stoßen wird.

Immerhin haben die Verfassungsgerichte der Bundesländer Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern weitgehende Ermächtigungsgrundlagen der dortigen Polizeigesetze in den letzten Jahren etwas zurechtgestutzt und damit die Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien ein Stück weit verteidigt

Noch ist die Bundesrepublik de facto kein Polizeistaat. Aber schon jetzt gibt es genügend gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen, bei deren konsequenter und umfassender Anwendung sich das Erscheinungsbild dieser Republik in erschreckender Weise verändern würde.

Stellen wir uns nur eine flächendeckende Anwendung der "anlass- und verdachtsunabhängigen Personenkontrolle" ("Schleierfahndung") durch die Polizei vor - die gesetzliche Befugnis hierzu haben viele Bundesländer in den letzten Jahren schon geschaffen. Stellen wir uns weiter vor, dass dabei die technischen Möglichkeiten des maschinenlesbaren Personalausweises umfassend ausgenutzt würden, z. B. zur Erstellung von Bewegungsprofilen vieler Menschen usw. Manche Personengruppen wie z. B. fremdländisch aussehende Bürger oder Demonstranten gegen Castor-Transporte u. a., die weitaus häufiger als der "Normalbürger" von polizeilichen Kontroll- oder Eingriffsmaßnahmen betroffen sind, dürften im Übrigen die Bundesrepublik schon heute eher als Polizeistaat wahrnehmen.

Wer den Versprechungen der Metternich-Epigonen von heute glaubt, mehr Sicherheit ließe sich durch ein Weniger an Freiheit erkaufen, erliegt einem fatalen Irrtum. Er wird, wovor schon Benjamin Franklin warnte, beides verlieren. Wer aber der Demokratie die Lebensluft zum Atmen erhalten will, muss dafür streiten, dass dieses Land nicht weiter mit Riesenschritten auf dem Weg in den Überwachungsstaat marschiert und damit auch das Ende der (gerade auch von SPD-Politikern viel gepriesenen) Zivilgesellschaft besiegelt wird.
 
 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 08.11.2001 um 21:37:45 Uhr
Erscheinungsdatum 07.11.2001
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Das Sicherheitspaket der Bundesregierung: Schutz oder Gefährdung der Demokratie?/ Von Martin Kutscha

Im Bundeskabinett steht am heutigen Mittwoch die Beschlussfassung über das so genannte Sicherheitspaket II auf der Tagesordnung. Ihm zufolge sollen künftig zum Beispiel Fingerabdrücke im Personalausweis gespeichert werden können. Nützen oder schaden verschärfte Sicherheitsregeln der Demokratie und der Entwicklung der Zivilgesellschaft, fragt der Berliner Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Martin Kutscha. Er kommt zu dem Schluss: Wer mehr Sicherheit mit weniger Freiheit erkaufen will, unterliegt einem fatalen Irrtum. Wir dokumentieren Martin Kutschas Analyse im Wortlaut.

1.

Ein vertrautes Handlungsmuster

Am 23. März des Jahres 1819 ermordete der Student Karl Ludwig Sand in Mannheim den im Dienst der russischen Regierung stehenden Dichter Kotzebue. Fürst von Metternich, österreichischer Staatskanzler und Hauptakteur der reaktionären "Heiligen Allianz", schrieb schon wenige Tage später in einem Brief, er wolle den Anlass ausnutzen, den "der vortreffliche Sand auf Kosten des armen Kotzebue geliefert" habe. Dies tat von Metternich denn auch.

Gegen den Widerstand einzelner Bundesstaaten konnten nunmehr die "Karlsbader Beschlüsse" zur Unterdrückung der oppositionellen Bewegung durchgesetzt werden. Diese Beschlüsse ermöglichten die Formierung der Universitäten u. a. durch Einsetzung eines Staatskommissars, die Knebelung der oppositionellen Presse sowie die Einrichtung einer "Centralbehörde zur nähern Untersuchung der in mehreren Bundesstaaten entdeckten revolutionären Umtriebe". Damit begann das dunkle Kapitel der "Demagogenverfolgung" in Deutschland.

Auch in der jüngsten deutschen Geschichte hat sich das hier erkennbare politische Handlungsmuster mehrfach wiederholt. Vor allem die Terroranschläge der RAF in den siebziger Jahren, später dann die "organisierte Kriminalität" dienten als Anlass für immer neue Wellen von "Sicherheitsgesetzen", mit denen die Eingriffsbefugnisse von Polizei und Geheimdiensten Schritt für Schritt ausgeweitet wurden.

Auch die von Innenminister Schily in den Wochen nach den verheerenden Terrorakten in den USA vorgelegten "Anti-Terror-Pakete" enthalten keineswegs ad hoc entstandene, neue Ideen, sondern viele Überwachungs- und Kontrollinstrumente, die schon lange vorher von Polizeivertretern gefordert worden waren. "Kaum einer der Vorschläge", so die Kritik in einer Erklärung von 16 Bürgerrechtsorganisationen, "hat einen konkreten Bezug zu den Anschlägen - außer jenem, dass sie ohne die zurzeit bei einem Teil der Bevölkerung vorherrschende Angst kaum durchsetzungsfähig wären."

Der Bundesinnenminister erklärte denn auch freimütig: "Die Initiativen, die wir vergangene Woche im Kabinett beschlossen haben, sind nicht erst nach dem 11. September eingeleitet worden."

Nach den Verhandlungen zum "Sicherheitspaket II" rühmten sich die Grünen zwar, die Freiheitsrechte erfolgreich gesichert zu haben. Die wichtigsten Bestandteile des Konzepts blieben jedoch erhalten, der Weg zu mehr Überwachung und weniger Freiheit ist damit vorgezeichnet.

Nach dem gleichen Handlungsmuster wird auch in den USA verfahren: Schon am 11. September, als die Trümmer des World Trade Centers noch brannten, installierten FBI-Beamte bei vielen US-amerikanischen Internet-Betreibern die Überwachungssoftware "Carnivore". Zuvor war eine solche Kontrolle des Internet durch amerikanische Sicherheitsbehörden politisch nicht durchsetzbar gewesen.

2.

Aktuelles Beispiel: die Rasterfahndung

Mit den enormen Innovationen der Informations- und Kommunikationstechnologie haben sich auch die Möglichkeiten technischer Überwachung von Menschen erheblich erweitert. So wäre z. B. die momentan in großem Stil betriebene polizeiliche Rasterfahndung gar nicht möglich, wenn nicht die Bevölkerung der Bundesrepublik in einer Vielzahl elektronisch geführter Dateisysteme erfasst wäre - von den Personalabteilungen der Unternehmen über die Universitätsverwaltungen und andere Behörden bis hin zu Banken, Versicherungen, Stromkonzernen und Telefongesellschaften.

Das Prinzip der Rasterfahndung, mit magerem Erfolg schon bei der Suche nach RAF-Mitgliedern eingesetzt, besteht in der Umkehrung der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung: Jeder, dessen Daten in die Rasterung einbezogen werden, gilt erst einmal als grundsätzlich verdächtig. Er mag sich noch so rechtstreu verhalten haben - falls in seiner Person zufällig mehrere der Suchkriterien erfüllt sind, muss er mit möglicherweise unangenehmen und stigmatisierenden Maßnahmen der Polizei wie z. B. einer Hausdurchsuchung rechnen.

Dabei verspricht diese Methode überhaupt nur dann Erfolg, wenn die gesuchten Kriminellen dem bei der Rasterfahndung zu Grunde gelegten Täterprofil genau entsprechen. Das Vorgehen z. B. in Berlin zeigt indessen, dass häufig statt kriminalistischem Scharfsinn blinder Aktionismus herrscht.

So beschloss das Amtsgericht Tiergarten auf Antrag des Landeskriminalamts Berlin am 20. September die Rasterfahndung nach einer Personengruppe, die kumulativ die folgenden Kriterien erfüllen sollte: "islamische Religionszugehörigkeit ohne nach außen tretende fundamentalistische Grundhaltung, . . . keine Auffälligkeiten im allgemeinkriminellen Bereich, . .. rege Reisetätigkeit, . . . finanziell unabhängig, . . . Flugausbildung". Die Polizei hatte schlicht das vom FBI für die so genannten "Schläfer" angenommene Täterprofil abgeschrieben, und auch das Gericht - dem ja eigentlich die genaue rechtsstaatliche Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen für diese Maßnahme obliegt - hatte nicht bedacht, dass solche Informationen über die Privatsphäre in den meisten der Dateien von Arbeitgebern, Universitätsverwaltungen usw. gar nicht gespeichert sind.

Einen Tag später bemerkte man die "Panne". Das Amtsgericht Tiergarten korrigierte seine Entscheidung und erweiterte die zu rasternde Personengruppe erheblich. Sie sollte jetzt nur noch die Eigenschaften "vermutliche islamische Religionszugehörigkeit und vermutlich legaler Aufenthaltsstatus in Deutschland" erfüllen. Gleichwohl hatte die Polizei auch Wochen später noch keine Treffer vorzuweisen. Dagegen wurden mehrere Unschuldige, wie der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland klagte, teils auf Grund von Namensgleichheiten mitten in der Nacht zum Verhör abgeholt und bis zu drei Tage lang festgehalten.

3.

Die Überwachung der

Telekommunikationsnetze

Zwar können wir davon ausgehen, dass wegen des erheblichen technischen Aufwandes das Instrument des Lauschangriffes auf Wohnungen gegenwärtig nur selten eingesetzt wird. Die weitaus einfachere Überwachung des Telefonverkehrs hat sich in Deutschland in den letzten Jahren jedoch "zu einem der zentralen Instrumente der Informationsbeschaffung der Sicherheitsbehörden entwickelt. Sie gilt als ein effektives und zugleich kostengünstiges Instrument der Sicherheitspolitik" . Die Steigerung bei der Anzahl der richterlichen Anordnungen zur polizeilichen Telefonüberwachung ist in der Tat beeindruckend: Gab es im Jahre 1995 erst 4674 solcher Anordnungen, betrug deren Anzahl im Jahre 1999 bereits 12 651. Es kommt hinzu, dass Telefongespräche auf der Grundlage des (im Mai 2001 mit den Stimmen der Regierungskoalition verschärften) "Gesetzes zu Artikel 10" (G 10) auch vom Verfassungsschutz und vom BND eifrig belauscht werden.

Die Telefonüberwachung beschränkt sich keinesfalls auf das bloße Abhören bzw. Aufzeichnen der von bestimmten Anschlüssen aus geführten Gespräche. Durch die Digitalisierung der Telekommunikation lässt sich inzwischen auch nachträglich feststellen, wer wann mit wem telefoniert hat. Zu Zeiten der analogen Vermittlungstechnik war dies noch nicht möglich - nach seiner Beendigung hinterließ ein Telefongespräch außer der Anzahl der Zeiteinheiten keine elektronischen Spuren.

Wer ein Handy benutzt, ermöglicht es damit der Polizei, Bewegungsbilder zu erstellen, indem die Meldungen der Funkzellen entsprechend ausgewertet werden. Die Rechtsprechung hat diese Praxis im Rahmen der Strafverfolgung gebilligt. Zu Recht kritisiert ein Datenschutzbeauftragter, dass die Telekommunikationsnetze ihren Charakter verändern, indem sie massenhaft Informationen sowohl über die Kommunikationsinhalte als auch über Aufenthaltsorte und andere Begleitumstände erzeugen und für die Sicherheitsbehörden bereithalten.

Wie in den USA weckt die massenhafte Nutzung des Internet auch in Deutschland staatlichen Überwachungseifer. Schon im November 2000 forderten die Innenminister von Bund und Ländern eine gesetzliche Verpflichtung der Provider und der Betreiber von Servern, alle IP-Adressen und weiteren Daten der Internetnutzer zu protokollieren und für Ermittlungszwecke aufzubewahren. Es versteht sich, dass Schily diese Forderung jüngst wieder aufgriff und die Verabschiedung einer neuen "Telekommunikationsüberwachungsverordnung" durch die Bundesregierung durchsetzte, auch wenn dabei noch einige für die Internet-Provider Kosten sparende Änderungen vorgenommen wurden.

Nur wenige Nutzer des Internet wissen, wie viele - bei entsprechendem Technikeinsatz gezielt auswertbare - Datenspuren sie bei jedem Mausklick hinterlassen. Längst werden von kommerziellen Unternehmen mit Hilfe von Techniken wie data-mining detaillierte Konsumentenprofile der persönlichen Neigungen und Vorlieben von Internet-Nutzern erstellt. Dass auch Geheimdienste an solchen Informationen über die Individualsphäre interessiert sind, liegt auf der Hand.

Die Notwendigkeit einer Überwachung des Internet bzw. des E-Mail-Verkehrs durch die Sicherheitsbehörden wird damit begründet, dass auf diese Weise weltweit agierende Terroristen aufgespürt werden könnten. Dabei wird allerdings übersehen, dass sich intelligente Straftäter bei ihrer elektronischen Kommunikation wirksamer Methoden der Verschlüsselung oder des Versteckens brisanter Nachrichten in unverfänglichen Bildern (Steganografie) bedienen, das Entdeckungsrisiko somit äußerst gering ist. Wer dagegen auf die Respektierung des Telekommunikationsgeheimnisses durch staatliche Stellen vertraut und seine Nachrichten unverschlüsselt versendet, kann überwacht und ausgeforscht werden. Betroffen von der Anwendung der neuen Überwachungsbefugnisse sind mithin, wie der Datenschutzrechtler Andreas Pfitzmann feststellt, "brave Bürger" und "Kriminelle, die so dumm sind, dass sie Selbstschutzmechanismen nicht nutzen".

4.

Identifikation durch Biometrie

Auch andere Bestandteile der aktuellen "Sicherheitspakete" sind eher zur Überwachung "normaler", sich rechtstreu verhaltender Bürger als zur Ermittlung von Terroristen geeignet. Dies gilt insbesondere für die geplante Aufnahme biometrischer Daten wie Fingerabdrücke und Angaben zur "Hand- und Gesichtsgeometrie" in Pässe und Personalausweise. Wie auf diese Weise "islamistische" Terroristen aufgespürt werden sollen, bleibt unerfindlich, da diese bei der Einreise im Regelfall ausländische Pässe vorlegen dürften.

Die Abnahme von Fingerabdrücken gehört zu den klassischen erkennungsdienstlichen Maßnahmen, die bisher nur gegen Straftatverdächtige, Asylsuchende und Ausländer mit zweifelhafter Identität oder Staatsangehörigkeit ergriffen werden durfte. Die daktyloskopische Erfassung der gesamten Bevölkerung der Bundesrepublik kann mithin nur als Ausdruck eines Generalverdachts gewertet werden.

Vor allem der Plan einer Erfassung und Speicherung der Gesichtsgeometrie aller Bundesbürger und -bürgerinnen macht freilich Sinn vor dem Hintergrund zunehmender Videoüberwachung von Plätzen in Großstädten, von Kaufhäusern, Banken etc. Die technischen Verfahren zur automatischen Gesichtserkennung anhand biometrischer Vergleichsdaten sind inzwischen weit fortgeschritten. So berichtete der Spiegel im Oktober 2001 z. B. über die Kamera-Software "Face Snap" der Bochumer Firma C-Vis sowie die Überwachungspraxis im Londoner Stadtteil Newham: Dort wurden allein 247 Videokameras installiert. Anhand biometrischer Daten der Gesichter von 100 Kriminellen werden die Aufnahmen elektronisch ausgewertet, und bei Erscheinen dieser Personen wird Alarm ausgelöst .

Durch den flächendeckenden Einsatz einer solchen Technologie lassen sich in Zukunft Menschen in öffentlichen Räumen, auf öffentlichen Plätzen usw. gezielt überwachen. Anhand der zwangsweise erhobenen Daten zur Gesichtsgeometrie lässt sich so künftig per Computer feststellen, wer welchen Weg in der Stadt zurücklegt und welches Geschäft er dabei besucht, aber auch, wer an welcher Demonstration teilnimmt, mit wem er dabei spricht usw. Der Überwachungsstaat Orwellscher Prägung würde damit düstere Realität.

Außerdem aber wird hier deutlich, dass es beim Einsatz von Videokameras zur Überwachung öffentlicher Plätze nicht nur um die Frage geht, ob dieser überhaupt ein verhältnismäßiges Mittel zur Eindämmung von Kriminalität ist. Solche und andere Formen staatlicher Überwachung beeinträchtigen nämlich zugleich auch den demokratischen Prozess in gravierender Weise.

5.

Überwachung und Demokratie

"Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist."

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner hier zitierten Volkszählungsentscheidung von 1983 richtig erkannt, dass der freie demokratische Prozess auch die Freiheit vor staatlicher Überwachung und Kontrolle voraussetzt. Ein demokratischer Verfassungsstaat muss also nicht nur die Grundrechte der freien politischen Kommunikation wie die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit respektieren, sondern auch die auf den Schutz der Privatsphäre zielenden Grundrechte, um einen offenen demokratischen Meinungsstreit ohne Angst vor Diskriminierung und Verfolgung zu ermöglichen.

Wo aber ein Klima der Überwachung und Bespitzelung herrscht, kann kein freier und offener demokratischer Prozess stattfinden. Ein omnipräsenter und omniinformierter Staat kennzeichnet denn auch ein diktatorisches System, in dem eine nach den jeweiligen Machtinteressen definierte Staatsraison den Freiheitsrechten der Bürger allemal übergeordnet ist.

Das Gegenmodell des Bundesverfassungsgerichts zum allwissenden totalitären Staat besteht in der Gewährleistung einer "informationellen Gewaltenteilung" und im Postulat eines besonderen grundrechtlichen Schutzes vor unbegrenzter Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten. Diesen Schutz soll das Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" leisten, das freilich auch nicht unbeschränkt gelten soll.

Zur Beschränkung dieses Freiheitsrechts, so das Gericht, bedarf es jeweils "einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht" .

Die Gesetzgeber von Bund und Ländern reagierten auf diese höchstrichterliche Vorgabe durch Schaffung einer Vielzahl "bereichsspezifischer" Regelungen über die jeweiligen Voraussetzungen der Datenerhebung, -verarbeitung und -übermittlung durch die verschiedenen öffentlichen Stellen. Wer aber nun eine wirksame Beschränkung des Datensammelns gerade im Bereich der Inneren Sicherheit erwartete, sah sich getäuscht. Durch die exzessive Verwendung von Generalklauseln und die Konstruktion kaum noch überschaubarer Schachteltatbestände in den neuen Gesetzen wurde im Ergebnis eine Entgrenzung des informationellen Handelns erreicht.

6.

Hoffen auf Karlsruhe?

Im Gegensatz zu seinem hehren grundrechtlichen Anspruch hat das Bundesverfassungsgericht der schrittweisen Ausweitung staatlicher Überwachungs- und Kontrollbefugnisse bisher kaum Barrieren entgegengesetzt. Abgesehen von der Volkszählung 1983 wurde die vom Gesetzgeber vorangetriebene Politik der Inneren Sicherheit auf Kosten der Freiheitsrechte im Wesentlichen gebilligt, was kleinere kosmetische Korrekturen nicht ausschloss.

Bei einer der spektakuläreren Entscheidungen, dem so genannten "Abhörurteil" von 1970 zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, gab es immerhin noch geharnischte Kritik in Gestalt des Minderheitsvotums dreier Verfassungsrichter: "Es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt."

Der Beschluss von 1984, der die "strategische Postkontrolle" des BND legitimierte, sowie das Urteil von 1999 zur Überwachung des Telefonverkehrs durch den BND vermittels der "Staubsaugermethode" fanden dann nur noch in der Fachliteratur gebührende Aufmerksamkeit und teilweise Kritik. Angesichts dieser Negativtradition des Bundesverfassungsgerichts bleibt nur eine geringe Hoffnung, dass die Einführung des strafprozessualen Lauschangriffs im Jahre 1998 sowie die Umsetzung der aktuellen Pläne auf ein entschiedenes Veto in Karlsruhe stoßen wird.

Immerhin haben die Verfassungsgerichte der Bundesländer Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern weitgehende Ermächtigungsgrundlagen der dortigen Polizeigesetze in den letzten Jahren etwas zurechtgestutzt und damit die Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien ein Stück weit verteidigt

Noch ist die Bundesrepublik de facto kein Polizeistaat. Aber schon jetzt gibt es genügend gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen, bei deren konsequenter und umfassender Anwendung sich das Erscheinungsbild dieser Republik in erschreckender Weise verändern würde.

Stellen wir uns nur eine flächendeckende Anwendung der "anlass- und verdachtsunabhängigen Personenkontrolle" ("Schleierfahndung") durch die Polizei vor - die gesetzliche Befugnis hierzu haben viele Bundesländer in den letzten Jahren schon geschaffen. Stellen wir uns weiter vor, dass dabei die technischen Möglichkeiten des maschinenlesbaren Personalausweises umfassend ausgenutzt würden, z. B. zur Erstellung von Bewegungsprofilen vieler Menschen usw. Manche Personengruppen wie z. B. fremdländisch aussehende Bürger oder Demonstranten gegen Castor-Transporte u. a., die weitaus häufiger als der "Normalbürger" von polizeilichen Kontroll- oder Eingriffsmaßnahmen betroffen sind, dürften im Übrigen die Bundesrepublik schon heute eher als Polizeistaat wahrnehmen.

Wer den Versprechungen der Metternich-Epigonen von heute glaubt, mehr Sicherheit ließe sich durch ein Weniger an Freiheit erkaufen, erliegt einem fatalen Irrtum. Er wird, wovor schon Benjamin Franklin warnte, beides verlieren. Wer aber der Demokratie die Lebensluft zum Atmen erhalten will, muss dafür streiten, dass dieses Land nicht weiter mit Riesenschritten auf dem Weg in den Überwachungsstaat marschiert und damit auch das Ende der (gerade auch von SPD-Politikern viel gepriesenen) Zivilgesellschaft besiegelt wird.
 
 

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Dokument erstellt am 08.11.2001 um 21:37:45 Uhr
Erscheinungsdatum 07.11.2001