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05. Mai 2004

"Private Lösungen sind nur Kostenverschiebungen“ -

E&W-Interview mit dem Soziologen Prof.Oskar Negt, Universität Hannover, über Bildungstendenzen in der Arbeitsgesellschaft

E&W: Herr Negt, Privatisierung quer durch alle Bildungsbereiche. Entspricht dieser Trend der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft?

Oskar Negt: Wir haben es aktuell mit einer Gesellschaft zu tun, die Anhängsel des Marktes ist. Karl Polanyi hat schon 1941 geäußert, dass in den spätkapitalistischen Ländern eine gefährliche Entwicklung auftreten kann, wenn plötzlich alle gesellschaftlichen Probleme über die Ökonomie, den Markt lösbar erscheinen. Dabei kann die Arbeitsgesellschaft ihr Kernproblem nicht durch eine Rationalisierung des Arbeitsmarktes lösen. Dies zeigt sich sehr deutlich an der Bundesagentur für Arbeit: Durch deren Politik finden Krisenlösungen an der Oberfläche, auf der Ebene von Terminologien, von Worthülsen statt. Politisch wäre deshalb so etwas wie eine neue Kapitalismuskritik notwendig.

E&W: Warum?

Negt: Schon allein, um deutlich zu machen, dass die gesellschaftlichen Widersprüche, wie wir sie momentan erleben, dem System immanent sind und nicht den einzelnen Menschen. Politisch gehandelt wird aber umgekehrt: Die gesamte Verantwortung für die Renten, für die Gesundheit, für die sozialen Sicherungssysteme wird dem Einzelnen aufgebürdet.

E&W: Wie reagiert das Bildungssytem auf die schärfere Konturierung der Klassengesellschaft?

Negt: Wir haben ein Bildungssystem, das gegenüber den heutigen Privatisierungsstrategien keine oder zu wenig Gegenkräfte mobilisiert. Es ist ein System, das sich den neoliberalen Strömungen einordnet. Es trägt daher zu einer neuen Polarisierung von Reichen und Armen, von Teilhabenden und Ausgegrenzten bei. Die Strukturen unseres Bildungssystems sind so, dass sie sich der affirmativen Krisenbewältigung der Politik anpassen.

E&W: Droht Bildung ihre Veränderungskraft zu verlieren?

Negt: So ist es. Persönlichkeitsbildung tritt zugunsten eines sehr leistungsorientierten, pragmatischen Bildungsbegriffs zurück. Ich stelle fest, dass in den Bildungsbereichen die Frage nach der Orientierung unbeantwortet bleibt: „Wo stehe ich, was ist die Welt, in der ich mich bewege?“ Damit verfallen die sozialen und emotionalen Kompetenzen, die diese Orientierungen vermitteln.

E&W: So ist es leichter, Bildung marktgängig zu machen?

Negt: Lernen und Leistung geraten gegenwärtig in einen betriebswirtschaftlichen Sog — das wäre meine These. Und die Undurchsichtigkeit und Verschleierung dieses Prozesses ist ein wesentliches Element einer gravierenden Veränderung in unserem Bildungssystem.

E&W: Nun kommt die Privatisierung bzw. Ökonomisierung in der Bildung ja nicht als Teufelszeug daher, sondern verbindet sich mit reformpädagogischen Begriffen wie Autonomie, Eigenverantwortung, selbstbestimmtem Lernen.

Negt: Wenn man heute von Autonomie und Dezentralisierung spricht, sind damit vor allem Maßnahmen zur Selbststeuerung der Sparhaushalte der Kommunen und Länder gemeint. Die Universitäten sind ein Beispiel dafür. Die Hochschulen sollen nach dem Willen der Landesregierungen selber bestimmen, was in den Fachbereichen an Personal und Lernmitteln wegfallen kann. Damit ist keine pädagogische oder lerntheoretische Autonomie gemeint. Im Gegenteil. Für mich ist dieses Eindringen von betriebswirtschaftlichen Kategorien in das Bewusstsein der Menschen und somit auch in die Bildungsbereiche und die pädagogischen Provinzen eine für die Demokratie höchst bedrohliche Tendenz.

E&W: Trotzdem — Bildung bloß als Anhängsel des Marktes zu sehen — ist das gerechtfertigt?

Negt: Ich glaube, dass sich der historische Bildungsbegriff um ein Vielfaches verändert hat. Das Humboldt´sche Bildungsideal ging von dem umfassend gebildeten Menschen, seiner Selbstentfaltung aus. Heute ist ein ganz anderer Bildungsbegriff am Entstehen: Die allseitige Verfügbarkeit, die ihren gruseligsten Ausdruck in der so genannten „Ich-AG“ gefunden hat. Der leistungsbewusste Mitläufer ist im Grunde genommen das Endprodukt dieses auf betriebwirtschaftliche Verwertbarkeit orientierten Denkens.

E&W: Die „Verbetriebswirtschaftlichung“ des Denkens scheint ein egozentrisches Denken mit zu befördern. Nach der Parole „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Der Arbeitnehmer ist nicht mehr mit anderen zusammen für ein Ganzes verantwortlich, sondern er arbeitet als „Ich-AG“ für sich. Mit allen negativen Folgen. Verabschiedet sich der Staat so aus seiner sozialen Verantwortung?

Negt: Ralf Dahrendorf hat das einmal so ausgedrückt: Die Ligaturen, also die Bindekräfte der Menschen, zerbrechen durch solche Prozesse. Wenn zum Beispiel bei Unternehmen keine Sorgfaltspflicht gegenüber der Belegschaft mehr stattfindet. Einzelne Unternehmen qualifizieren ihre neuen Mitarbeiter — welche Paradoxie! — dahin gehend, dass sie möglichst schnell irgendwo etwas anderes finden können. Das sieht human aus. Das Motiv ist aber, dass man sie problemlos entlassen kann. Wenn diese Zerstörung von Ligaturen sehr früh einsetzt, also schon in der Schule, ist das für den Gesamtzusammenhalt der Gesellschaft bedrohlich. Denn durch diese Erosion von Bindefähigkeit des Menschen steigen auch die Gewaltpotenziale der Gesellschaft an. Insofern steckt dahinter ein Problem, das mit der Gesamtstruktur einer demokratischen Gesellschaft zu tun hat, mit der Ökonomie genauso wie mit Bildungs- und Lernprozessen.

E&W: Wenn im Augenblick eine Art betriebswirtschaftlicher Umbau des Bildungssystems stattfindet, welche Folgen hat das beispielsweise für die Chancengleichheit bei Bildungszugängen?

Negt: Wir werden eine stärkere gesellschaftliche Polarisierung bekommen: von Durchschnittsausbildungen der unteren und mittleren Bildungsgänge, die im Grunde genommen Kandidaten für Arbeitslosigkeit produzieren und von einem geringen Anteil an Hochqualifizierten, auf die die Gesellschaft angewiesen ist. Diese Polarisierung in der Ausbildung, die ja bereits wahrnehmbar ist, wird sich verschärfen. Auch hier spielen die USA eine Vorreiterrolle: Durch die dortige Veränderung der Arbeitsplatzstruktur sind 40 Millionen Arbeitsplätze in nur einem Jahrzehnt vernichtet worden. Es sind zwar auch gleichzeitig 35 Millionen neue Jobs entstanden, aber in diesen vollzieht sich ein extremer Ausschlag: Ein Großteil von den Arbeitnehmern ist viel schlechter qualifiziert als vorher, aber ein Teil wesentlich höher. Wenn sich eine solche Tendenz auch bei uns ausweitet, und diese sehe ich, dann werden Bildungsgänge immer selektiver.

E&W: Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seinem Buch „Der flexible Mensch“ die emotionale und soziale Entwurzelung des Einzelnen analysiert. Ist das die Konsequenz einer output-orientierten Verwertbarkeit menschlicher Kompetenzen?

Negt: Der amerikanische Titel heißt genauer und besser „The corrosion of character“, „Die Zerstörung des Charakters“. Und genau darauf läuft diese Ökonomisierung des Lernens und Lebens einschließlich der Arbeit ja hinaus. Mir liegt sehr viel daran, diese schleichenden Veränderungen in der Symbol- und Begriffswelt — zum Beispiel bei Begriffen wie Autonomie oder Eigenverantwortung — öffentlich zu benennen. Hier vollzieht sich ja auch ein Abbau von Vorratshaltung in der Bildung. Die kurzfristige Anwendung des schnell Gelernten ist unproduktiv. Ein gebildeter und innengeleiteter Mensch zehrt von einer Art Vorratslager: Von Begriffen, Sichtweisen, Erinnerungen, die nur selten alle sofort nützlich sind. Solche Vorratslager werden zurzeit rigoros abgebaut. Dies hat im Ökonomischen eine Entsprechung, nämlich den Abbau von Lagerhaltung, weil sie zu teuer geworden ist. Die „Just-in-time-Produktion“ in der Warengesellschaft korrespondiert mit dem „Just-in-time-Lernen“ im Bildungsbereich . . .

E&W: . . . und bewirkt eine verengte Sichtweise und Bewertung in der Bildung — beispielsweise bei PISA?

Negt: Ja, man sollte deshalb die PISA-Ergebnisse immer in Bezug auf die Gesamtkompetenzen einer Person betrachten und bewerten. Damit man emotionale und soziale Kompetenzen als eigene Leistungskomponenten nicht außer Acht lässt und dann vergisst. Das würde am Ende einen eindimensionalen Menschen hevorbringen.

E&W: Das Problem ist doch: Die von Ihnen befürchtete Verengung des Lernens und Denkens erscheint nicht als solche. Nehmen wir das Beispiel selbstständige Schule: Die Lehrer sollen ihre Ressourcen selbst verwalten und größere Handlungsspielräume erhalten. Das ist per se nichts Negatives?

Negt: Auf den ersten Blick sind diese Prozesse alle sehr positiv zu bewerten. Kollegien erhalten mehr Selbstkontrolle, mehr verantwortlichen Umgang mit ihren Finanzmitteln. Das Problem besteht darin, dass zunehmend mehr öffentliche Verantwortung, öffentliche Erfahrungs- und Bildungsräume „privatisiert“ werden. Der Privatisierungswahn, den wir im Moment erleben, suggeriert, dass jedes öffentlich entstandene Problem individuell, also privat lösbar ist — und daher am kostengünstigsten ist. So die vorherrschende Ideologie. Der französische Sozialphilosoph André Gorz hat einmal gesagt „die kostengünstigsten Lösungen von gesellschaftlich entstandenen Problemen sind kollektive und nicht private“. Private Lösungen sind im Prinzip am Ende nur Kostenverschiebungen. Diese Form der Entstaatlichung bedeutet jedoch ein Auszehren von kollektiven Denkweisen, von denen ich allerdings meine, dass sie dringender denn je sind.

Interview: Helga Haas-Rietschel