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SPIEGEL ONLINE - 23. Juli 2007, 17:42
URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,495973,00.html
POLITIK-HEUSCHRECKEN
1. Teil : "Ohnmacht oder Naivität"
Schröder bei Gasprom, Scharping
und Rühe bei Cerberus: Immer mehr Politiker heuern in der
Wirtschaft an. Sozialethiker Friedhelm Hengsbach erläutert im
Interview, warum Gesellschaft und Unternehmen unter dieser
Interessensvermischung leiden.
manager-magazin.de: Herr Hengsbach, vor kurzem wurden einige
Nebeneinkünfte der Bundestagsabgeordneten veröffentlicht. Gab
es da für Sie Überraschungen?
Hengsbach: Eigentlich nicht. Ich überlegte, welche Motivation es
gibt, neben dem an sich ausfüllenden Beruf des Politikers so viel
zusätzlich zu arbeiten. Einerseits kann es sein, dass die
Diäten den Aufgaben und der Verantwortung der Abgeordneten nicht
angemessen sind - der Ansicht bin ich tatsächlich. Andererseits
ist es möglich, dass sich einige im Bundestag nicht allzu sehr
für ihre Abgeordnetentätigkeit interessieren.
mm.de: In der aktuellen Debatte wird vor allem die Vermischung von
Interessen kritisiert. Otto Schily zum Beispiel hat als Innenminister
die Einführung biometrischer Techniken in der Innenpolitik
betrieben und arbeitet nun neben seinem Abgeordnetenmandat für
zwei Firmen aus dieser Branche.
Hengsbach: Eine solche Vermischung ist bedenklich. Ganz allgemein sind
in diesem Zusammenhang zwei große Entwicklungslinien zu erkennen,
die ich für hochriskant halte: Erstens geht das etablierte
Staatsverständnis verloren, wonach Öffentliches und Privates
von einander getrennt bleiben sollen.
mm.de: Was meinen Sie damit?
Hengsbach: Ich beobachte seit einiger Zeit, dass immer mehr Politiker
nicht mehr der Gesellschaft - und damit auch der Wirtschaft - als
Staatsvertreter gegenüberstehen, sondern in deren Wirkungskreis
eingebunden werden. Es entsteht ein Netzwerk der
politisch-wirtschaftlichen Eliten. In diesem Netz ist die Regierung nur
noch ein Knoten von vielen, neben Lobbys, Verbänden, Kirchen und
anderen zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Die Akteure der Netzwerke
sind austauschbar, politische Unterschiede zwischen den Parteien
verwischen.
mm.de: Gerhard Schröder wechselte nach seiner Kanzlerschaft zu
Gasprom, Theo Waigel ist heute bei Texas Pacific, Otto Graf Lambsdorff
bei Terra Firma. Man könnte einfach sagen: Die Leute sind
dafür eben qualifiziert.
Hengsbach: Hier kommt mein zweiter Punkt ins Spiel. Die Regierenden
fühlen sich den Finanzmärkten gegenüber zunehmend
machtlos. Die wiederum sind zu einer Art "fünfter Gewalt" in der
Demokratie geworden. Durch die Einbindung der Politiker in deren
Netzwerke verstärkt sich dieses Phänomen, weil die Politik
keine Außensicht mehr auf die Interessen der Kapitalmärkte
hat.
mm.de: Wo beobachten Sie das?
Hengsbach: Bei so genannten Public-Private-Partnerships etwa, wo diese
Vermischung auf Jahre festgeschrieben wird. Hier werden
öffentliche Güter, die für alle Bürger
unabhängig von ihrer Kaufkraft zugänglich sein sollen und
deshalb bisher von der öffentlichen Hand bereitgestellt wurden, in
die Hände der Privatwirtschaft gegeben: Städtische
Gebäude etwa, die man verkauft und dann zurück mietet. Auch
Schwimmbäder werden gemeinsam betrieben, Versorgungswerke sind
privatisiert, neuerdings dehnt man die Kooperation auf Schulen und
sogar Verwaltungsaufgaben aus.
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ZUR PERSON
Der Jesuit
Friedhelm Hengsbach, 70, hat Philosophie, Theologie
und Wirtschaftswissenschaften studiert. Er war langjähriger Leiter
des Oswald- von- Nell- Breuning- Instituts in Frankfurt am Main und
lehrt Sozial- und Wirtschaftsethik. Hengsbach hat sich profiliert mit
Büchern wie "Das Reformspektakel", in denen er wirtschaftlichen
Sachverstand mit der katholischen Soziallehre zu verbinden sucht.
(dpa)
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Das Versprechen dabei ist, dass diese Güter so billiger und
effizienter angeboten werden. Zu diesem Zweck wird zuvor das
öffentliche Angebot als bürgerfern, bürokratisch und
ineffizient dargestellt. Die hohen Erwartungen werden aber in vielen
Fällen enttäuscht. Mancher will ja einfach aus seiner
betriebswirtschaftlichen Sicht heraus glauben, dass das funktionieren
muss. Er übersieht dabei, dass der Staat neben bloßer
Güterversorgung andere Aufgaben hat. Aufgaben, die der Markt gar
nicht erfüllen kann, etwa gesellschaftlichen Zusammenhalt
herzustellen, den Wettbewerb vor Monopolen zu schützen, die
Geldverfassung zu sichern oder sozialen Ausgleich herzustellen.
mm.de: Schafft der Staat das denn mit seinen Mitteln? Sie sagten, diese
würden oft als bürgerfern, bürokratisch und ineffizient
dargestellt. Jeder, der schon mal ein Gewerbe anmelden wollte,
bestätigt das aus leidvoller Erfahrung. Da sehnt man sich eine
privat organisierte Stadtverwaltung herbei.
Hengsbach: Ja, sicher - wenn man über Kaufkraft verfügt. Wer
sich Privatwirtschaft leisten kann, wird dort auch gute Erfahrungen
machen. Aber in Bereichen der sozialen Sicherung und Daseinsvorsorge,
etwa Gesundheit und Bildung oder auch am Arbeitsmarkt, geht es nicht um
Waren, die man einfach nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien
verteilen müsste. Die individuelle Arbeitskraft ist nicht trennbar
von der Person, die arbeitet, und von deren Würde - also gelten
andere Maßstäbe. Bildung sollte für alle
gleichermaßen verfügbar sein, ein gesundheitlicher
Mindeststandard für alle erschwinglich. In solchen Bereichen ist
die Versorgung durch private Angebote oft unzureichend.
mm.de: Wie sehen die Probleme konkret aus?
Hengsbach: Es gibt zahlreiche Beispiele bei der Privatisierung der
Strom-, Gas- und Wasserversorgung, gerade in Nordrhein-Westfalen und
Sachsen. Die Preise sind stark angestiegen, und wo tatsächlich
Kosten gesenkt wurden, ging das zu Lasten der Mitarbeiter.
Privatisierungen gehen fast immer mit Einkommenssenkungen einher und so
mit Kaufkraftverlusten in den betroffenen Regionen. Letztlich werden
Kosten und Erträge nur verschoben.
mm.de: Dennoch bleibt die Frage: Was soll schlimm daran sein, wenn
erfahrene Politiker sich in der Wirtschaft engagieren?
Hengsbach: Schlimm ist es dann, wenn sie vorher in ihrem politischen
Wirken den Eindruck vermittelt haben, dass sie im Sog der
betriebswirtschaftlichen Kalkulation hängen. Das ist ein Vorwurf,
den man Gerhard Schröder oder auch Wolfgang Clement machen muss.
mm.de: Sie werfen den Herren Korruption vor?
Hengsbach: Nein, das nicht. Was ich meine, ist Folgendes: Die
Unternehmen vertreten das Interesse, ihre Kosten zu senken, zum
Beispiel im Bereich der Steuern, Löhne und Sozialabgaben.
Wohlgemerkt, das ist in ihrer Situation nur verständlich. Die
Vertreter der staatlichen Macht haben aber die Aufgabe, zwischen
verschiedenen gesellschaftlichen Interessen zu vermitteln.
Da sind einer Senkung der Steuern, Lohnkosten und Sozialabgaben Grenzen
gesetzt, weil sonst die Schwachen darunter leiden. Wenn nun die
Staatsvertreter dieses Spiel der Unternehmen mitspielen, sei es aus
Ohmacht oder aus Naivität, dann fallen die Nöte der
Bevölkerungsmehrheit leicht unter den Tisch. Dann handeln die
Politiker faktisch schon im Dienst ihrer späteren Arbeitgeber,
noch während sie als Volksvertreter verpflichtet sind. Das werfe
ich ihnen vor.
mm.de: Was meinen Sie damit: "das Spiel mitspielen"?
Hengsbach: Sie haben den Parolen der wirtschaftlichen Eliten in
zahllosen Fällen zu stark nachgegeben. Nehmen Sie die Lockerung
des Kündigungsschutzes, die Absenkung der Sozialleistungen oder
die Tatsache, dass sinkenden Niedriglöhnen nichts entgegengesetzt
wird.
Diese Politik ist sehr stark einzel- und betriebswirtschaftlich
orientiert. Ihre volle gesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche
Wirkung hat man aber nicht gesehen. Inzwischen moniert das selbst Peer
Steinbrück. Der soziale Zusammenhalt geht flöten, wenn die
Sicherungssysteme erodieren.
mm.de: Die Unternehmen haben ihre berechtigten Kostensenkungen
durchgesetzt, das hat Arbeitsplätze langfristig gesichert.
Hengsbach: Die Nebenwirkungen gehen aber auch an ihnen nicht vorbei.
Wobei man unterscheiden muss, wer wovon profitiert. An der boomenden
Exportwirtschaft stoßen sich große Konzerne und der
exportierende Mittelstand gesund. Unter der nach wie vor schwachen
Binnennachfrage leiden kleinere Unternehmen, die allerdings insgesamt
mehr Menschen beschäftigen.
Oder nehmen Sie die Finanzmärkte, die Renditen erwirtschaften, die
im realwirtschaftlichen Prozess nicht erreicht werden können.
Renditen von 25 Prozent und mehr gehen nicht auf reale
Wertschöpfung zurück, sondern auf spekulative, riskante
Finanzgeschäfte.
En gros und auf Dauer leidet unter diesen Entwicklungen die Mehrheit
sowohl der Bevölkerung als auch der Unternehmen. Das kann nicht
das Ziel verantwortungsbewusster Politiker sein. Der Kapitalismus
könnte weit mehr reale Wertschöpfung erzielen, wenn unsere
Politik gegen diese Ungleichgewichte vorgehen würde. Das - und
nicht einzelwirtschaftliche Vorteile - müsste das Interesse von
Politikern sein.
mm.de: Im globalen Standortwettbewerb kann man mit diesen Weisheiten
nicht standhalten. Es gibt immer einen Konkurrenten, der sich um die
Ungerechtigkeiten im eigenen Land nicht schert und billiger produziert.
Hengsbach: Deutschland ist diesem Wettbewerb weit weniger ausgesetzt
als Sie glauben. Gut zwei Drittel unserer internationalen
Wirtschaftstätigkeit sind auf Europa konzentriert, und in Europa
gelten durchaus soziale Mindeststandards.
Die Produktionsverlagerungen, die uns in den vergangenen Jahren so
umgetrieben haben, machen tatsächlich einen minimalen Anteil an
der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung aus. Im Übrigen
schlägt sich der Exportweltmeister Deutschland wacker, selbst mit
dem teuren Euro.
mm.de: Zurück zu den Politikern. Macht es einen qualitativen
Unterschied, ob sie bei produzierenden Unternehmen mitarbeiten oder bei
Heuschrecken?
Hengsbach: Ja, denn der Finanzkapitalismus im Stil vieler Private
Equitys ist unreguliert. Hier ist die Politik also im besonderen
Maß gefordert. Alle sind sich ja einig, dass diese Spekulationen,
sobald sie eine gewisse Größenordnung überschreiten,
für ganze Volkswirtschaften riskant sind. Vor solchen Gefahren
sollten Politiker ihre Länder schützen. Wenn Sie sich
stattdessen für diese Spekulateure engagieren, ist das eine
Verkehrung ihres Auftrags.
mm.de: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den personellen
Verquickungen und den Steuervorteilen, die
Private-Equity-Gesellschaften in Deutschland nach den jüngsten
Steuerbeschlüssen genießen?
Hengsbach: Ich würde nicht sagen, dass die Politiker ein
unmittelbares Interesse daran haben. Sie stehen aber unter einem
andauernden subtilen Druck. Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf Breuer sagte
über den Standortwettbewerb, dass die millionenfachen
Entscheidungen, die in der Finanzwelt täglich getroffen werden,
nationale Regierungen sinnvoller und effizienter steuern als die Wahlen
alle vier Jahre. Er bringt damit ein Wertesystem auf den Punkt, das
überall in der öffentlichen Debatte von den
unterschiedlichsten Sprechern vertreten wird. Irgendwann kommen
Politiker an den Punkt, das genau so zu glauben oder sich diesem
Meinungsdruck zu beugen.
Das Schlimme ist, dass damit ein Rattenrennen entsteht, in dem die
Staaten nicht gewinnen können. Was nützt es, wenn Deutschland
den Buß- und Bettag kippt, um für gleichen Lohn einen Tag
mehr Arbeit zu bekommen, Österreich aber mit einer
Feiertagsstreichung antwortet? Das gleiche spielt sich bei
Steuersätzen ab.
mm.de: Aber dem Steuerwettbewerb ist kaum zu entkommen.
Hengsbach: Standortentscheidungen sind komplex. Die transnationalen
Unternehmen sind nicht so dumm, dabei allein auf die Steuersätze
zu schauen. Schließlich wird von Steuergeldern vieles bezahlt,
was Standorte attraktiv macht: Infrastruktur, Bildung, etc. Zu
beobachten ist Folgendes: Seit über den Steuerwettbewerb geredet
wird, ist die Steuerlast in praktisch allen Industriestaaten gestiegen.
Sie ist nur innerhalb der Staaten anders verteilt worden, weg von den
Unternehmen, hin zu den Bürgern, vor allem denen mit kleinen und
mittleren Einkommen. Der Wettbewerbsdiskurs, auf den viele Politiker
ihr Handeln gründen, gibt die Realität also verzerrt wieder.
mm.de: Wirtschaftlich orientierte Politiker leiden an
Realitätsverlust?
Hengsbach: Es bildet sich ein Riss heraus zwischen den Interessen
breiter Bevölkerungsschichten und dem, was politische und
wirtschaftliche Eliten für vernünftig halten. Unter diesen
Eliten besteht eine viel größere Übereinstimmung,
bekräftigt durch entsprechende Expertengutachten und
Kommissionsbeschlüsse, als zwischen Politik und Wählern. Da
müssen sich die Politiker fragen, ob sie ihre Wählerschaft
tatsächlich repräsentieren. Die sinkenden Zustimmungswerte
der etablierten Parteien spiegeln das wider, besonders deutlich bei der
SPD, die sich als Kleine-Leute-Partei versteht
mm.de: Deshalb der gegenwärtige Erfolg der Linkspartei?
Hengsbach: Ja. Die Menschen wählen Parteien, die mit den
bisherigen so genannten Reformen nichts zu tun haben. Oder sie
wählen gar nicht.
mm.de: Und das alles, weil Politiker sich in der Wirtschaft engagieren?
Hengsbach: Da besteht kein Kausalzusammenhang. Umgekehrt: dieses
Phänomen ist Ausdruck für die zunehmende Überschneidung
zwischen den Bereichen Politik und Wirtschaft.
mm.de: Viele der Wirtschafts- und Sozialreformen der vergangenen Jahre
waren doch nötig, um das Land langfristig fit zu machen. Weil sie
kurzfristig schmerzhaft sind, werden sie vom Wähler abgestraft.
Hengsbach: Wenn es nur so wäre! Diese Politik ist ja nicht neu,
sie wird seit fast dreißig Jahren betrieben, getreu den Maximen:
"Vertraue auf die Selbstheilungskräfte des Marktes", "der schlanke
Staat ist der beste aller möglichen Staaten" und "wenn die
Zentralbank die Inflation bekämpft, kommen Wachstum und
Beschäftigung automatisch".
Seit Jahrzehnten sind damit Aufschwungversprechen verbunden, die nicht
eingelöst werden. Wie lange soll "kurzfristig" denn sein? Wie
lange sollen die Leute das glauben? Wie viele Politiker haben die
Senkung der Arbeitslosigkeit mit eben diesen Mitteln versprochen? Eine
Halbierung in zwei bis drei Jahren, das war die Verheißung der
Hartz-Kommission!
mm.de: Es fällt auf, dass Sie die Interessen der Wirtschaft als
den sozialen Interessen entgegengesetzt darstellen. So, als ob die
Unternehmen prinzipiell gegen die Gesellschaften arbeiten würden,
in denen sie existieren. Was ist mit bürgerschaftlichem Engagement
aus den Unternehmen?
Hengsbach: Natürlich verlaufen die Fronten nicht so eindeutig, und
natürlich stellen sich die Unternehmen auf ihr Umfeld ein. Gerade
die großen Konzerne - und nicht nur die - spenden für gute
Zwecke oder Kultur, sie bemühen sich um gute Arbeitsbedingungen
und die Einhaltung von Umweltstandards. Zumindest in Ländern, wo
der politische Druck entsprechend ist. Der kommt aber von außen -
im Vordergrund steht meist die Imagepflege. Das heißt: Diese
positiven Aspekte werden meist von außen in die Unternehmen
getragen.
mm.de: Abgesehen von der Sorge um den guten Ruf - wie soll ein
Verständnis für öffentliche Belange besser in
Unternehmen und Investmentgesellschaften gelangen als durch Politiker,
die dort arbeiten?
Hengsbach: Zunächst die positive Deutung: Dass da, wo personeller
Austausch stattfindet, auch Verständnis für die andere Seite
entsteht, die dazu beträgt, private und öffentliche
Interessen zu versöhnen. Die kritische Deutung ist: Sollte dieser
Versuch tatsächlich stattfinden, wird die Politik dabei über
den Tisch gezogen - sowohl in Public-Private-Partnerships als auch bei
der Netzwerkbildung.
mm.de: Welcher Deutung neigen Sie zu?
Hengsbach: Der zweiten. Die Politiker kommen selten ins operative
Geschäft und sie sind Einzelne. Sie haben keinen nennenswerten
Einfluss auf die Ausrichtung der Unternehmen.
2. Teil: Wie wirtschaftlich
orientierte Politiker unter Realitätsverlust leiden.
mm.de: Zurück zu den Politikern. Macht es einen qualitativen
Unterschied, ob sie bei produzierenden Unternehmen mitarbeiten oder bei
Heuschrecken?
Hengsbach: Ja, denn der Finanzkapitalismus im Stil vieler Private
Equitys ist unreguliert. Hier ist die Politik also im besonderen
Maß
gefordert. Alle sind sich ja einig, dass diese Spekulationen, sobald
sie eine gewisse Größenordnung überschreiten, für
ganze
Volkswirtschaften riskant sind. Vor solchen Gefahren sollten Politiker
ihre Länder schützen. Wenn Sie sich stattdessen für
diese Spekulateure
engagieren, ist das eine Verkehrung ihres Auftrags.
mm.de: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den personellen
Verquickungen und den Steuervorteilen, die
Private-Equity-Gesellschaften in Deutschland nach den jüngsten
Steuerbeschlüssen genießen?
Hengsbach: Ich würde nicht sagen, dass die Politiker ein
unmittelbares
Interesse daran haben. Sie stehen aber unter einem andauernden subtilen
Druck. Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf Breuer sagte über den
Standortwettbewerb, dass die millionenfachen Entscheidungen, die in der
Finanzwelt täglich getroffen werden, nationale Regierungen
sinnvoller
und effizienter steuern als die Wahlen alle vier Jahre. Er bringt damit
ein Wertesystem auf den Punkt, das überall in der
öffentlichen Debatte
von den unterschiedlichsten Sprechern vertreten wird. Irgendwann kommen
Politiker an den Punkt, das genau so zu glauben oder sich diesem
Meinungsdruck zu beugen.
Das Schlimme ist, dass damit ein Rattenrennen entsteht, in dem die
Staaten nicht gewinnen können. Was nützt es, wenn Deutschland
den Buß-
und Bettag kippt, um für gleichen Lohn einen Tag mehr Arbeit zu
bekommen, Österreich aber mit einer Feiertagsstreichung antwortet?
Das
gleiche spielt sich bei Steuersätzen ab.
mm.de: Aber dem Steuerwettbewerb ist kaum zu entkommen.
Hengsbach: Standortentscheidungen sind komplex. Die transnationalen
Unternehmen sind nicht so dumm, dabei allein auf die Steuersätze
zu
schauen. Schließlich wird von Steuergeldern vieles bezahlt, was
Standorte attraktiv macht: Infrastruktur, Bildung, etc. Zu beobachten
ist Folgendes: Seit über den Steuerwettbewerb geredet wird, ist
die
Steuerlast in praktisch allen Industriestaaten gestiegen. Sie ist nur
innerhalb der Staaten anders verteilt worden, weg von den Unternehmen,
hin zu den Bürgern, vor allem denen mit kleinen und mittleren
Einkommen. Der Wettbewerbsdiskurs, auf den viele Politiker ihr Handeln
gründen, gibt die Realität also verzerrt wieder.
mm.de: Wirtschaftlich orientierte Politiker leiden an
Realitätsverlust?
Hengsbach: Es bildet sich ein Riss heraus zwischen den Interessen
breiter Bevölkerungsschichten und dem, was politische und
wirtschaftliche Eliten für vernünftig halten. Unter diesen
Eliten
besteht eine viel größere Übereinstimmung,
bekräftigt durch
entsprechende Expertengutachten und Kommissionsbeschlüsse, als
zwischen
Politik und Wählern. Da müssen sich die Politiker fragen, ob
sie ihre
Wählerschaft tatsächlich repräsentieren. Die sinkenden
Zustimmungswerte
der etablierten Parteien spiegeln das wider, besonders deutlich bei der
SPD, die sich als Kleine-Leute-Partei versteht
mm.de: Deshalb der gegenwärtige Erfolg der Linkspartei?
Hengsbach: Ja. Die Menschen wählen Parteien, die mit den
bisherigen so
genannten Reformen nichts zu tun haben. Oder sie wählen gar nicht.
mm.de: Und das alles, weil Politiker sich in der Wirtschaft engagieren?
Hengsbach: Da besteht kein Kausalzusammenhang. Umgekehrt: dieses
Phänomen ist Ausdruck für die zunehmende Überschneidung
zwischen den
Bereichen Politik und Wirtschaft.
mm.de: Viele der Wirtschafts- und Sozialreformen der vergangenen Jahre
waren doch nötig, um das Land langfristig fit zu machen. Weil sie
kurzfristig schmerzhaft sind, werden sie vom Wähler abgestraft.
Hengsbach: Wenn es nur so wäre! Diese Politik ist ja nicht neu,
sie
wird seit fast dreißig Jahren betrieben, getreu den Maximen:
"Vertraue
auf die Selbstheilungskräfte des Marktes", "der schlanke Staat ist
der
beste aller möglichen Staaten" und "wenn die Zentralbank die
Inflation
bekämpft, kommen Wachstum und Beschäftigung automatisch".
Seit Jahrzehnten sind damit Aufschwungversprechen verbunden, die nicht
eingelöst werden. Wie lange soll "kurzfristig" denn sein? Wie
lange
sollen die Leute das glauben? Wie viele Politiker haben die Senkung der
Arbeitslosigkeit mit eben diesen Mitteln versprochen? Eine Halbierung
in zwei bis drei Jahren, das war die Verheißung der
Hartz-Kommission!
mm.de: Es fällt auf, dass Sie die Interessen der Wirtschaft als
den
sozialen Interessen entgegengesetzt darstellen. So, als ob die
Unternehmen prinzipiell gegen die Gesellschaften arbeiten würden,
in
denen sie existieren. Was ist mit bürgerschaftlichem Engagement
aus den
Unternehmen?
Hengsbach: Natürlich verlaufen die Fronten nicht so eindeutig, und
natürlich stellen sich die Unternehmen auf ihr Umfeld ein. Gerade
die
großen Konzerne - und nicht nur die - spenden für gute
Zwecke oder
Kultur, sie bemühen sich um gute Arbeitsbedingungen und die
Einhaltung
von Umweltstandards. Zumindest in Ländern, wo der politische Druck
entsprechend ist. Der kommt aber von außen - im Vordergrund steht
meist
die Imagepflege. Das heißt: Diese positiven Aspekte werden meist
von
außen in die Unternehmen getragen.
Hengsbach: Zunächst die positive Deutung: Dass da, wo personeller
Austausch stattfindet, auch Verständnis für die andere Seite
entsteht,
die dazu beträgt, private und öffentliche Interessen zu
versöhnen. Die
kritische Deutung ist: Sollte dieser Versuch tatsächlich
stattfinden,
wird die Politik dabei über den Tisch gezogen - sowohl in
Public-Private-Partnerships als auch bei der Netzwerkbildung.
mm.de: Welcher Deutung neigen Sie zu?
Hengsbach: Der zweiten. Die Politiker kommen selten ins operative
Geschäft und sie sind Einzelne. Sie haben keinen nennenswerten
Einfluss
auf die Ausrichtung der Unternehmen.
Das Interview
führte Matthias Kaufmann
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