05. Mai 2004
Neoliberales Wunschdenken …
… im Widerspruch zur Verfassung
Die Vorschläge zur Entstaatlichung öffentlicher Schulen konzentrieren sich zunächst im Wesentlichen auf berufliche Schulen. Doch sind sie verfassungsrechtlich überhaupt haltbar? Prof. Dieter Sterzel von der Universität Oldenburg verneint dies. Der Jurist begründet, warum eine Privatisierung öffentlicher Schulen nicht mit Verfassungsprinzipien unserer Demokratie vereinbar ist.
Den Hintergrund der Debatte über die Privatisierung beruflicher Schulen bilden der Reformbedarf dieses Schulsegments und nicht zuletzt auch die Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte. Durch den Einbezug der ausbildenden Wirtschaft in das berufliche Schulwesen will Politik der Kritik begegnen, dass das duale System an der Praxis vorbei ausbildet. Dem deutschen System wird vorgeworfen, „flexibel wie ein Hartschalenkoffer zu sein“. Dementsprechend soll der schulische Anteil der Ausbildung klarer auf die aktuellen Anforderungen der Arbeitswelt ausgerichtet werden.
Instrumentalisierung
Berufspädagogen und Sozialforscher warnen dagegen vor einer ökonomischen Instrumentalisierung beruflicher Schulbildung. Sie weisen mit guten Gründen auf die Funktion der Berufsschule als Lern- und Lebensort hin, in dem die Grundlagen für die lebenslange Entwicklungsfähigkeit einer Persönlichkeit gelegt werden. Der schulische Sozialisationsprozess muss deshalb die Schüler im Sinne des Konzepts des Life-Long-Learning komplementär zum überwiegenden Praxisanteil der Ausbildung dazu befähigen, die notwendigen Anpassungen und Veränderungen in ihrem späteren Berufsleben vornehmen zu können.
Die mit einer Privatisierung des beruflichen Schulwesens verknüpften weitreichenden Veränderungen der Schulorganisation offerieren Politiker mit modernistischen, mehr oder weniger inhaltslosen Schlagworten wie Effektivierung der Schulverwaltung, Deregulierung und Befreiung von staatlicher Bevormundung. Verbunden sind damit erhebliche Einspareffekte. Eine größere Wirtschaftsnähe der Berufsschulen soll zudem die Lernortkooperation verbessern.
Aufgabenprivatisierung
In Hamburg und Bremen sind die Überlegungen zu einer Veränderung des beruflichen Schulwesens schon weit gediehen (siehe auch Titelgeschichte Seite 6 ff.). In Hamburg war ursprünglich geplant, die Berufsschulen in Kooperation mit Handels- und Handwerkskammer in eine private Trägerschaft zu überführen, um so praktisch eine Aufgabenprivatisierung durchzuführen. In der vergangenen Legislaturperiode wurde dann in einem Referentenentwurf die Gründung einer Stiftung des öffentlichen Rechts vorgeschlagen, die die Trägerschaft dieser Schulen übernehmen soll. Die Besonderheit dieses Modells besteht darin, dass die schulrelevanten Entscheidungen von einem 20-köpfigen Leitungsorgan (einem Kuratorium) getroffen werden, das sich aus zehn Wirtschafts-, acht Senats- und zwei Gewerkschaftsvertretern zusammensetzt. Dem Bildungssenator bliebe freilich im Rahmen einer komplizierten Zuständigkeitsregelung in Konfliktfällen die letzte Entscheidung vorbehalten. Man muss abwarten, ob der im Februar neu gewählte Senat diese Pläne einer verkappten Privatisierung wieder aufgreift.
Die Bremer Überlegungen laufen nach derzeitigen Stand auf Public Private Partnership hinaus. Das so genannte operative Geschäft der berufsbildenden Schulen wird an eine gemeinnützige GmbH übertragen, deren Alleingesellschafter der Senat ist. Dem für die Schulen zuständigen Senator bleibt im übrigen die letzte Verantwortung für die schulischen oder strategischen Entscheidungen vorbehalten. Insofern kann man von einer Organisationsprivatisierung sprechen. Beiden Modellen ist gemeinsam, dass die Schulen vor Ort zugleich größere Autonomie erhalten sollen. Die Steuerung der einzelnen Schule soll mit Hilfe eines Kontraktmanagements auf der Grundlage von Zielvereinbarungen erfolgen.
Ungeachtet der vielfältigen Formen der Privatisierung staatlicher Aufgabenfelder – von der Bundesbahn bis zu den Wasserbetrieben – bleibt im Hinblick auf die aktuell diskutierten weitreichenden Veränderungsvorschläge juristisch zu klären, welche Möglichkeiten für eine Entstaatlichung des öffentlichen Schulwesens bestehen. Ob also die im Grundgesetz vorgegebenen verfassungsrechtlichen Direktiven eine Privatisierung staatlicher Schulen überhaupt zulassen.
Blick ins Grundgesetz
Der erste Absatz von Art. 7 im Grundgesetz (GG) stellt das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates. Damit wird ein vom Staat zu erfüllender Erziehungs- und Bildungsauftrag in den von ihm zu unterhaltenden öffentlichen Schulen festgelegt. Sie sind unverzichtbarer Bestandteil der für das Funktionieren der Gesellschaft notwendigen Infrastruktur. Zum Kernbereich der staatlichen Schulherrschaft zählt im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „die organisatorische Gliederung der Schule, das inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge und das Setzen der Lernziele sowie die Entscheidung darüber, ob und inwieweit diese Ziele vom Schüler erreicht worden sind.“ Dementsprechend hat der Gesetzgeber nach Maßgabe des für die Grundrechtswahrnehmung der Eltern und Schüler wichtigen Rechtsstaatsgebots die wesentlichen Merkmale der Schulorganisation und auch des Schulverhältnisses zu bestimmen. Und ebenso haben die Landesschulgesetze zu gewährleisten, dass der als verfassungsrechtliche Pflichtaufgabe definierte staatliche Erziehungsauftrag im Bereich der inneren und äußeren Schulorganisation als hoheitliche Aufgabe in die öffentliche Verwaltung eingebunden und von beamteten Lehrerinnen und Lehrern als Repräsentanten des Staates interessenneutral und unter Beachtung des Toleranzgebotes wahrgenommen wird.
Schranke errichtet
Auch wenn deren Arbeit nicht ohne weiteres hierarchisch gesteuert werden kann, erfüllen Lehrkräfte wegen der elementaren Bedeutung schulischer Erziehung für die Entwicklung der Schüler eine verfassungsgebundene Verwaltungsaufgabe. Diese hat erhebliche Bedeutung für die Grundrechte, weil durch sie über existentiell wichtige Qualifikationen - Zeugnisse und Noten - und damit über Lebenschancen der Schüler entschieden wird.
Das gesamte Schulwesen liegt also im Einflussbereich des Staates, daher lässt sich der Bereich der inneren und äußeren Schulangelegenheiten als genuine, und damit privatisierungsresistente Staatsaufgabe bezeichnen. Dies gilt uneingeschränkt auch für die beruflichen Schulen, für die ausschließlich der Staat im Rahmen des dualen Systems die Verantwortung trägt.
Zusätzlich errichtet das Demokratieprinzip des Grundgesetzes eine Schranke für die Entstaatlichung der zum Kernbereich der Schulverwaltung gehörenden Aufgabenfelder. Das Bundesverfassungsgericht geht für bestimmte, in der Verfassung dem Staat zugewiesene Aufgaben vom Primat der personell-demokratischen Legitimation aller Entscheidungsbefugten aus. Zu diesen gehören die so genannten „Staatsaufgaben im engeren Sinne“, mithin auch die Schulaufsicht. Hier wird ein Organisationsprogramm vorausgesetzt, wie es das hierarchisch strukturierte Behördensystem eines parlamentarisch verantwortlichen Ministers gewährleistet, dessen Fachaufsicht es unterworfen ist. In dieser Perspektive erhalten die für unser grundgesetzliches System konstitutiven Organisations- und Strukturprinzipien des Demokratie- und Rechtsstaatsgebots ein verfassungsrechtliches Verbot für die Erfüllung bestimmter hoheitlicher Aufgaben in Privatrechtsform. Das staatliche Wahrnehmungsmonopol für den Bereich des öffentlichen Schulwesens gemäß Art. 7 Abs. 1 GG schließt deshalb sowohl eine Aufgaben- wie eine Organisationsprivatisierung im Kernbereich der staatlichen Schulverwaltung von vornherein aus. Ebenso eine Umwandlung staatlicher Schulen in eine GmbH, selbst wenn der Staat alle Gesellschafteranteile hält. Privatrechtlich organisierte Schulen sind nur auf der Grundlage der in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG grundrechtlich garantierten Privatschulfreiheit möglich. Das Grundgesetz lässt auf diese Weise einen gegenüber der Gesellschaft offenen schulischen Pluralismus zu und enthält damit sein eigenes abschließendes Privatisierungskonzept.
In Randbereichen möglich
Lediglich in Randbereichen des staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrages erscheint danach eine Organisationsprivatisierung bzw. Formen der Public Private Partnership möglich. Dies gilt z. B. bezüglich derjenigen Aufgaben, die üblicherweise vom Schulträger wahrgenommen werden und die die Bewirtschaftung bzw. das Versorgungsangebot der Schulen betreffen, dabei jedoch nicht den staatlichen Schulauftrag berühren.
Verfassungsrechtlich zulässig ist es jedoch, dass Private (Personen, Träger) an zu erfüllenden Aufgaben innerhalb der staatlichen Schulverwaltung mitwirken. Dabei muss i.S. der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Entscheidungsherrschaft staatlicher Amtsträger sichergestellt sein. Deshalb stößt das Hamburger Stiftungsmodell auf grundsätzliche Bedenken. Denn es trägt dem Prinzip des verbindlichen „Letztentscheidungsrechts“ demokratisch legitimierter Amtsträger nicht in ausreichendem Maße Rechnung.
Festzuhalten ist, dass dem Gesetzgeber im Rahmen der grundgesetzlich festgelegten Schulhoheit bei der Ausgestaltung des staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrages nicht mehr alle möglichen Organisationsformen zur Verfügung stehen, um die staatlichen Verwaltungsaufgaben zu erfüllen. Der Staat darf sich aber wegen des an ihn gestellten Verfassungsauftrages für das öffentliche Schulwesen in Hinblick auf seine Grundrechtsverpflichtung gegenüber Eltern und Schülern nicht selbst aus der Verantwortung verabschieden. Insofern gilt: Neoliberales Wunschdenken im Schulbereich läuft nicht nur an der Verfassung vorbei, sondern Irrtümer sind in diesem für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hochsensiblen Politikbereich besonders fatal.
Dieter Sterzel