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INNERPARTEILICHE DEMOKRATIE

von

Peter Conradi

Die Diskussion über Fragen der innerparteilichen Demokratie in der SPD hat seit Bildung der großen Koalition an Intensität zugenommen, nicht zuletzt durch die Konfrontation mit einer wachsenden außerparlamentarischen Opposition, deren Kritik an den gesellschaftlich- politischen Zuständen die SPD nicht ausnimmt. In die ser Diskussion geht es vorwiegend um das Verhältnis der Parteiführung zur Parteimitgliedschaft. Dabei werden kritisiert: auf der einen Seite die Verselbständigung der Führungsgruppen, die Willensbildung von oben nach unten, das Ausklammern strittiger Fragen und die vielfältigen Methoden der Manipulation; auf der anderen Seite die unpolitische Haltung der Mitgliedschaft, ihr fehlendes gesellschaftliches Bewußtsein, ihr mangelnder Informationswille und ihre falsche Solidarität zur Parteiführung, ihre schon sprichwörtliche Parteidisziplin.

Emotionalisierung anstelle von Politisierung

Tatsächlich liegt das Dilemma innerparteilicher Demokratie in der SPD jedoch bei der mittleren Funktionärsschicht, bei den Mandatsträgern, Funktionären und Delegierten auf Kreis-, Unterbezirks- und Bezirksebene. Das System einer repräsentativen Demokratie, wie es das Organisationsstatut der SPD vorsieht, steht und fällt mit der Leistungsfähigkeit der Repräsentativorgane. Fehlt der vielzitierte Transmissionsriemen, so drehen - um im Bilde zu bleiben - Führung und Mitgliedschaft unabhängig voneinander durch.

Der Gedanke, die innerparteiliche Demokratie durch Einführung neuer, plebiszitärer Elemente wie Urabstimmung und Urwahl zu stärken, mag auf den ersten Blick bestechen, nicht zuletzt in einer Zeit, in der Räte-Modelle wieder diskutiert werden. Bei der derzeitigen Struktur der SPD-Mitgliedschaft wäre jedoch das Gegenteil das Resultat: Emotionalisierung anstelle von Politisierung. Die Entwicklung der Berliner SPD zeigt das deutlich: die Partfeiführung hat de facto abgewirtschaftet und mobilisiert nun gemeinsam mit CDU und Springer-Presse das gesunde Volksempfinden gegen den inneren Feind, die Studenten, in der Absicht, die Diskussion um die verfehlte Politik des Senats umzulenken - und eine verängstigt- hysterische Bevölkerung folgt willig dem Ruf der starken Männer. Plebiszitäre Elemente können zur Stärkung innerparteilicher Demokratie nichts beitragen, mindestens nicht, solange der überwiegende Teil der SPD-Mitgliedschaft bewußtseinsmäßig nicht deutlich über der sonstigen Bevölkerung steht.

Naheliegender ist es, die Funktionsfähigkeit der mittleren Funktionärsschicht zu stärken. Ihre Aufgabe in einem repräsentativen System wäre es, Informationsträger von unten nach oben und umgekehrt zu sein, die Führungsgruppen politisch zu wählen und zu kontrollieren und das politische und gesellschaftliche Bewußtsein der Mitgliedschaft zu heben. Keine dieser Funktionen wird heute befriedigend erfüllt. Woran liegt das ?

Sozialbürokratie

Die Leistungsfähigkeit eines Repräsentativorgans hängt in erster Linie von den Kriterien ab, nach denen die Auslese für dieses Organ stattfindet. Die mittlere Funktionärsschicht der Partei wird überwiegend nicht nach politischen Gesichtspunkten gewählt, vielmehr sind oft bereits übernommene Funktionen, die Zugehörigkeit zu (nicht politisch bestimmten) Gruppen innerhalb und außerhalb der Partei und Verdienste um die Organisation ausschlaggebend. Der Wahlmodus wirkt ebenfalls entpolitisierend: Sind mehrere Kandidaten zu wählen, so muß meist der Wahlberechtigte genau die Zahl der zu Wählenden ankreuzen.

Diese Einschränkung der Wahlfreiheit - die Freiheit zu wählen muß die Freiheit, nicht zu wählen oder sich zu enthalten, einschließen - soll verhindern, daß Minderheiten durch gezielte Wahl jeweils nur einiger Kandidaten die Wahlergebnisse manipulieren. Rigoros angewendet, erlaubt dieses Wahlsystem der Mehrheit, auch beachtliche Minderheiten von der Willensbildung auszuschließen, wie die Wahl der Berliner Parteitagsdelegierten für Nürnberg gezeigt hat. Die Bildung politischer Flügel innerhalb der Partei wird damit erschwert, die Folge ist eine Entpolitisierung der Wahlen. Zu den Nebeneffekten gehört eine ständige Verfälschung der Wahlergebnisse: Minderheitenwählen zuerst die Kandidaten der eigenen Richtung, danach aus den übrigen Kandidaten diejenigen, denen sie die geringsten Erfolgschancen einräumen.

Demokratischer Leerlauf

Neben Auswahlkriterien und Wahlmodus wirkt das Verhalten der Führungsgruppen gegenüber den Repräsentativorganen entpolitisierend. Die mittlere Funktionärsschicht wird nicht als Mitwirkungs- und Kontrollorgan verstanden, sondern als Briefträger nach unten. Von oben werden ihr Programme und Entscheidungen vorgelegt, die bestenfalls ein Ja oder Nein erlauben Alternativen werden fast nie sichtbar gemacht, Politisierung als Bewußtmachung gesellschaftlicher Konflikte findet nicht statt. Im Vertrauen auf die Parteidisziplin wird die Zustimmung zur Parteilinie der Führung zur Prestigefrage; ein Nein zu dem von Herbert Wehner 1964 vorgeschlagenen Bundespräsidentschaftskandidaten Lübke wird beispielsweise zu einem Nein zu Herbert Wehner umgewertet. Der Reduzierung der Alternativen auf Ja-Nein-Entscheidungen entspricht
der ständige Appell an das Vertrauen; kein Kabarettist könnte es zutreffender formulieren als Herbert Wehner nach der Bad Godesberger Konferenz in dor "bonner depesche" 11/67 im November 1967: "Die Vertrauensleute der Partei wollen wissen, wie die Leute ihres Vertrauens in der Regierung das Vertrauen der Wähler der SPD rechtfertigen wollen, wenn die SPD darauf angewiesen ist, sowohl das Vertrauen der Stammwähler als auch das Vertrauen neuer Wähler zu
gewinnen." Trau, schau, wem?

Zahlreiche politische Entscheidungen erfordern zunehmend detaillierte Sachkenntnisse. In den Führungsgruppen begünstigt das die Tendenz der "Fachidioten", die weniger Informierten der Einfachheit halber zu überfahren und anstehende Fragen unter sich zu regeln.Der Auswahlmodus der mittleren Funktionärsschicht wiederumträgt nicht dazu bei, Fachleute in die Repräsentativorgane zu bringen, die in der Lage waren, Entscheidungen der Parteiführung detailliert zu kontrollieren. So sind die Änderungen in den Entwürfen der Notstandsgesetzeweniger auf den weithin emotionalen Pro-
test der Mitgliedschaft und ihrer Repräsentativorgane zurückzuführen als auf die sachlich fundierte Oppostion von Fachleuten innerhalb und außerhalb der Partei, eine Opposition, die sich vor allem außerhalb der Partei in den Gewerkschaften und an den Hochschulen artikulierte.

Schließlich wird die demokratische Leistungsfähigkeit der Repräsentativorgane vom Selbstverständnis der mittleren Funktionärsschicht beeinträchtigt. Der lnformationsvorsprung gegenüber der Mitgliedschaft ist gering, führt aber nichtsdestoweniger zu einem Privilegierten-Bewußtsein. Die Lektion, daß Führung ohne Beteiligung der Mitglieder einfacher ist, wird auch von den nachrückenden jüngeren Funktionären rasch gelernt. So gewinnt der Durchgang durch diese Schicht in die Führungspositionen der Partei ähnliche Funktionen wie die Referendarzeit beim Beamtennachwuchs:
hier wie dort wird der Nachwuchs frühzeitig konditioniert,d.h. zurVerinnerlichung der vorhandenen errschaftsverhältnisse erzogen. Der Organisationsablauf tut ein Übriges: Eine Vielzahl von Gremien mit nur geringfügig unterschiedlicher Besetzung behandelt dieselben Probleme. Vom demokratischen Prinzip wäre dagegen nichts einzuwenden, befaßten sich diese Gremien nicht weitgehend mit Organisations- und Verfahrensfragen und der Weitergabe bereits oben getroffener Entscheidungen. Der bloße Organisationsaufwand wird unabhängig von seinem Inhalt schon weithin als Politik verstanden, das festgefahrene Ritual eines demokratischen Leerlaufs tritt an die Stelle relevanter politischer Mitbestimmung.

Freischwebende Manager

Der Funktionsunfähigkeit der mittleren Funktionärsschicht entspricht die Entwicklung der Parteiführung zum freischwebenden Management. Äußerlich ist diese Entwicklung an dem in der Parteispitze gelegentlich zu beobachtenden quasi-großbürgerlichen Managerverhalten Einzelner ablesbar, das oft in groteskem Gegensatz zur verbreiteten Kleinbürgerlichkeit der Mitgliedschaft steht. Funktional drängt sich der Vergleich zum freischwebenden Management der Großindustrie auf ; hier wie dort werden Aktionärsversammlungen (Parteitage) als lästige, für den Gang der Dinge fast irrelevante Pflichtübungen verstanden, hier wie dort werden Wahlen zur Akklamation der von den Großbanken- (Vorstands-)vertretern ausgehanedelten Vorschläge für die Neubesetzung vakanter Stellen.

Der Übernahme von Verhaltensweisen der industriel len Leistungsgesellschaft entspricht das Einfließen industrieller Effizienzkriterien in die Politik der Partei. Bewußtseinsbildung bei der Mitgliedschaft, Denken in Modellen und Alternativen, Austragen der Konflikte - das alles kostet Zeit und Reibung, und die Ergebnisse lassen sich nicht mit Sicherheit voraussagen. Effizienz wird verstanden als rasches und reibungsloses Zustandekommen von Entscheidungen. So ist auch die in den Sozialdemokratischen Perspektiven geforderte Leistungsorientierung der Partei zu verstehen. Leistung wird hier nicht verstanden als die Beteiligung mög lichst Vieler am Willensbildungsprozeß der Partei, nicht als die Politisierung und Bewußtmachung der Mitgliedschaft, sondern als Mitwirkung am möglichst glatten, reibungslosen Zustandekommen von Entscheidungen, was zwangsläufig die quantitative Beschränkung der Entscheidungsgewalt auf Wenige bedeutet. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, daß kritische Geister der nachfolgenden Generation die Frage stellen, ob dieses System überhaupt noch in der Lage ist, Demokratie zu verwirklichen. Um die Beantwortung dieser Frage durch die Praxis der Partei werden wir nicht herumkommen.

( Quelle : "express international" Jahrgang V, Nr.54/55 vom 02.03.1968 )