Trotz Verhinderung der Mitwirkung der Parteibasis ca..50 Änderungen am SPD Regierungsprogramm durchgesetzt
Bericht vom a. o. Bundesparteitag ( Wahlparteitag ) der
SPD am 18. und 19. Juni 1976 in Dortmund von Wilhelm R ü h l , Parteitagsdelegierter
des Bezirks Ostwestfalen- Lippe
 
Zunächst einige Vorbemerkungen :
1. Dieser Bericht soll nicht die in der Presse bereits dargestellten Ereignisse wiederholen, sondern eine Reihe von Hintergrundinformationen bringen, die sich z. T. auf Initiativen des Ov. und Unterbezirks H ö x t e r sowie des Bezirks Ostwestfalen-Lippe zu diesem Parteitag beziehen.
2. Bereits Mitte Februar dieses Jahres hatte der AfA- Unterbezirksvorstand Höxter einen Antrag zum Wahlprogramm verabschiedet, wonach die wichtigsten AfA- Beschlüsse, insbesondere die volle paritätische Mitbestimmung , in das SPD- Wahlprogramm aufgenommen werden sollten.
Dieser Antrag war allen übergeordneten AfA- Gremien ( Bezirk, Landesverband, Bundesvorstand ) zugeleitet worden, aber trotz mehrmaliger Anmahnung dort nicht behandelt worden.
Nun zum Parteitag selbst :
Er wurde nach den üblichen Begrüßungsreden durch eine Grundsatzrede von Helmut Schmidt zu dem von ihm entworfenen SPD- Regierungsprogramm 1976 - 1980 eingeleitet. Im Mittelpunkt seiner Rede standen die Argumente zum " Modell Deutschland ".
Er bemühte sich auch um Integration und Toleranz der unterschiedlichen Meinungen in der Partei und solidarisierte sich eindeutig mit Willy Brandt, was daraufhin deutet , daß die Arbeitsteilung Bundeskanzler Schmidt und Parteivorsitzender Brandt wohl noch längere Zeit bestehen bleiben wird. Hier sollen einige Ausführungen in seiner Rede dazu wiedergegeben werden :
" Unsere Partei braucht die Integration. Wir brauchen die Geschlossenheit. Und wir brauchen Willy Brandt und seine Geduld. Wer sonst denn könnte dieses leisten unter uns ? .... Verschiedenheit der Meinungen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. ..... Die Herren der CDU und CSU sagen immer " oder " und " statt ". Sagen wir doch bitte : Leben und leben lassen ! . . . "
Die anschließend stattfindende Diskussion war dann auch ausgewogen, und es war deutlich zu erkennen, daß keine gegensätzlichen Fronten aufgerissen werden sollten.
Die lang andauernde Aussprache wirkte allerdings streckenweise ermüdend , sprachen doch immerhin ca. 40 Diskussionsredner. Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Worte von Marlene Lubek aus Paderborn ( Mitglied des Parteirats ) erwähnen, die sie im kleinen Kreis aussprach :
" Die Reden, die hier gehalten werden, die gehören nicht auf einen Parteitag. Was hier gesprochen wird, wissen wir doch alle . Das muß draußen im Wahlkampf gesagt werden. Das hätte man doch alles an einem Tag abwickeln können und dadurch Geld sparen können. "
Sie hatte im Grunde genommen recht. Aber es war nun einmal ein Wahlparteitag, auf dem man Einigkeit demonstrieren und sich nur mit dem politischen Gegner auseinandersetzen will. Die eigentliche Aufgabedieses Parteitages, die Aufstelung eines gemeinsamen Wahlprogramms, kommt natuerlich dann zu kurz.
So dauerte auch die Diskussion über die Anträge zum SPD- Regierungsprogramm nur 2 - 3 Stunden.
Der Werdegang des Regierungsprogramms
Der Entwurf des SPD- Regierungsprogramms war von Bundeskanzler Helmut Schmidt allein aufgestellt und den Parteigliederungen erst nach dem offiziellen Antragsschluß vom 7. Maii dieses Jahros zugänglich gemacht worden«; sodaß die Parteibasis keine Möglichkeit hatte, dazu in Form von Änderungsanträgen Stellung zu nehmen«, Diese Verfahrensweise wendet die Parteispitze immer dann an, wenn sie ihre Vorstellungen ohne größeren Widerstand durchsetzen will. So hatte der Parteivorstand z. B. auch auf dem vorhergehenden Mannheimer Parteitag die neue Beitragsstaffel und die Aufhebung der Veröffentlichung der Anträge zu ordenlichen Parteitagenim " Vorwärts " erst nach Antragsschluss beantragt.
Jetzt hatte zwar der Parteirat ( beratendes Organ der SPD beim Parteivorstand ) beschlossen, Anträge von Bezirksparteitagen nach Antragsschluss entgegenzunehmen ( am 7. 5. ). Dieser Beschluß war aber den Bezirken nicht offiziell mitgeteilt worden und auch nicht im Informationsdienst " intern " vom 19. 5., in dem der Programmentwurf angekündigt uurde , erschienen.
Der hier gegebene Hinweis., daß alle Vorsitzenden der Ortsvereine, Unterbezirke und Bezirke die Anträge aus den Organisationsgliederungen zum a.o. Parteitag erhalten sollten, wurde nicht nur ( zumindest überall ) nicht durchgeführte, sondern auch mit einer Auslegung des Organisationsstatuts begründet, die zumindest zweifeihaft bezeichnet werden muß .
Durch diese Zusendung können die Anträge nicht gemäß § 22 ( 2 ) als veröffentlich gelten ( vergl." intern " Nr.6/7S vom 19.05. 76 Seite 1 unten ), da § 32 vorschreibt, daß " Veröffentlichungen des PV im " Vorwärts"erfolgen '' .
Wenn man auch das Interesse der Parteispitze verstehen kann, sich gegenüber der Basis nicht festlegen zu wollen, darf man aber nicht so weit gehen, zur Ausschaltung der Parteibasis unfaire , ja ordnungswidrige Mittel zu verwenden. Das ruft den Widerstand der demkratisehen Kräfte hervor und kann unter Umständen auch zu Loyalitätskonflikten führen.
So lag dem Parteitag dann auch ein Initiativantrag des Unterbezirks Amper- Lech ( unterstützt von 4o Parteitagsdelegierten ) vor, der dieses Antragsverfahren kritisierte ( vergl. Anlage : Initiativantrag 1 ). Er wurde bei 5 Gegenstimmen und 3 Enthaltungen für erledigt erklärt, nachdem Herbert Wehner eine Erklärung abgegeben hatte, aus der hervorging, daß alle bis zum Parteitag eingegangenen Anträge ( auch die " von Ortsvereinen und Unterbezirken , darunter 4 vom ÜB Ampor-Lech ) behandelt wurden. Darunter befanden sich auch 3 Anträge unseres Bezirks OWL , wobei bei einem Antrag ( Vergesellschaftung der Arzeneimittelindustrie ) ein wichtiger Halbsatz ( Besoldung aller Arzte ) fehlte.
Außerdem wurden 2 Anträge unseres Bezirksparteitages ( Radikalen-Erlaß und Zusendung der Parteitagssnträge auf Anforderung an alle Mitglieder ) dem Bundcsparteitag nicht zugeleitet, obwohl beim Beschluß die entsprechende Adresse angegeben war. Beide Anträge waren von aktueller Wichtigkeit. Der Organisationsantrag kam vom OV Höxter . Durch seine Nichtvorlage beim Parteitag hat das einzelne Parteimitglied kein satzungsmäßiges Recht mehr, sich über die Willensbildung der SPD auf dem nächsten ordentlichen Parteitag zu informieren.
Trotz dieser Beschneidung des Mitwirkungsrechts der Parteibasis wurden an ca. 50 Stellen des ca. 50 - seitigen Programmentwurfs Änderungen vorgenommen» Die Diskussionen darüber erfolgten aber hinter den Kulissen, offiziell in der Antragskommission, aber auch am Rande des Parteitages. Rund 2o Initiativanträge sorgten dafür, daß ein erster Entwurf der Antragskommission, der sich nur im Besitz der Mitglieder des Parteivorstandes , der Antragskommission und des Parteirates ( nicht stimmberechtigt, sondern nur beratende Funktion !! ) , nicht in den Händen der Masse der stimmberechtigten Delegierten befand, nochmals abgeändert werden mußte.
Dieser 2. Entwurf der Antragskommission wurde dann noch in 2 Punkten abgeändert und nach Einzelabstimmungen bei 2 Enthaltungen als das endgültige SPD- Regierungsprogramm beschlossen.
Immerhin gelang es der Parteibasis, u. a. die volle paritätische Mitbestimmung, die Einführung von Investititioneninformationsstellen , die Beschränkung des Rüstungsexports ( Initiativantrag OWL von Heinz Junker ) und die Weiterverfolgung der integrierten Gesamtschule ( dies allerdings erst in einer Kampfabstimmung mit Auszählen : vergl. das betreffende Foto ) ins Programm hineinzubekommen.
Erwähnenswert ist noch, daß es die Jungsozialisten waren, die die Aufnahme der vollen Parität bei der Mitbestimmung ins Programm erzwangen, als es die Gewerkschaftler schon längst aufgegeben hatten.
Zürn Schluß des Wahlparteitages hielt Willy Brandt noch eine
kämpferische Rede zur Eröffnung des Wahlkampfes.