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Bund haftet nach Flugzeugabsturz


Urteil des Landgerichts Konstanz zum Unglück in Überlingen

Deutschland muss wegen der Flugzeugkatastrophe von Überlingen mit 71 Toten Schadenersatz zahlen. Der Bund habe der Schweizer Flugsicherung Skyguide rechtswidrig die Aufsicht über Teile des deutschen Luftraums überlassen, so das Landgericht Konstanz.

Stuttgart - Für Versäumnisse bei der Schweizer Flugsicherung Skyguide habe Deutschland deshalb einzustehen, weil zu keiner Zeit eine "wirksame Übertragung der als hoheitliche Aufgabe ausgestalteten Flugsicherung auf die Schweiz" stattgefunden habe.

Geklagt hatten die Bashkirian Airlines. Bei dem Unglück war am 1. Juli 2002 in etwa elf Kilometer Höhe über Überlingen am Bodensee eine Passagiermaschine der Fluglinie mit einem Frachtflugzeug des Kurierdienstes DHL kollidiert. Von den 69 Opfern in der russischen Tupolew waren 45 Kinder und Jugendliche. Die Fluggesellschaft der russischen Teilrepublik Baschkirien hat nach dem Urteil Anspruch auf Ersatz für ihre zerstörte Maschine. Deutschland muss zudem für Forderungen der Angehörigen aufkommen. Am Landgericht Konstanz sind noch weitere Schadenersatzklagen anhängig: so von der DHL auf 36 Millionen Euro, die bei dem Zusammenstoß ihre Boeing verlor.

Das Urteil ist die erste gerichtliche Entscheidung zu dem Unglück in Deutschland.

Skyguide arbeitete kostengünstig und, wie man heute weiß, bisweilen an der Grenze der Belastbarkeit: Zu wenig Leute, schlecht gewartetes Material. In der Unglücksnacht sei der Fluglotse ein "armes Schwein" gewesen, hatte der Anwalt der baschkirischen Fluglinie in seinem Plädoyer gesagt. Er habe zwei Radarschirme gleichzeitig betreuen müssen. Ein Warnprogramm und die Telefone funktionierten wegen Wartungsarbeiten nicht.

Die Anwälte der Bundesrepublik sahen deshalb eine Schuld bei Skyguide. Auch das Gericht sah "drastische Fehler" der Schweizer Flugsicherung. Die Schweizer verwiesen auf das gegenseitige Einvernehmen und den Auftrag Deutschlands. Einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag gibt es nicht, obwohl Politiker und Verantwortliche aus der Region schon Jahrzehnte darauf pochen. Der Auftrag für Skyguide sei deshalb rechtswidrig gewesen, so die Konstanzer Richter.

Das Urteil hat nach Angaben der Deutschen Flugsicherung (DFS) zunächst keine Auswirkungen auf den Luftverkehr. Ohne eine Änderung der Zuständigkeiten durch den Bund werde die bisherige Praxis fortgesetzt, sagte eine Sprecherin in Langen bei Frankfurt. Das Bundesverkehrsministerium will die Urteilsbegründung abwarten. Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) hatte bereits angekündigt, gegen die vom Bundestag beschlossene Privatisierung der Deutschen Flugsicherung zu klagen. Die Kammer ließ Revision gegen das Urteil zu. Beobachter gingen davon aus, dass letztlich der Bundesgerichtshof entscheiden werde. gar/dpa/ap

Kommentar

Überlinger Absturz: In staatlicher Verantwortung

So einfach darf sich ein Staat nicht aus der Verantwortung schleichen. Mal eben eine hoheitliche Aufgabe an eine privatrechtliche Aktiengesellschaft abdrücken, die im Auftrag eines anderen Lands tätig ist. Ohne Staatsvertrag, ohne gesetzliche Grundlage. Und dann den Pilatus mit den frisch gewaschenen Händen geben, wenn die Sache so gründlich schief geht. Wenn 71 Menschen sterben, weil das private Unternehmen Skyguide an Personal spart und Warnanlagen zur Unzeit wartet.

Es ist nicht anzunehmen, dass das Konstanzer Landgericht das letzte Wort in Sachen Flugzeugabsturz am Bodensee gesprochen hat. Derartige Rechtsstreitigkeiten ziehen sich über Jahre und Instanzen. Schließlich geht es nicht allein um den Ausgleich für die baschkirische Unglücksmaschine. In weiteren Verfahren klagen die DHL, deren Post-Flieger mit der Tupolew kollidiert war, sowie 19 Versicherungen aus acht Ländern auf Schadenersatz. Auch die Skyguide-Verantwortlichen dürften nicht ungeschoren bleiben; ein Strafprozess wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung soll bald vor dem Schweizer Bezirksgericht Bülach beginnen.

Einstweilen aber hat Konstanz ein gewichtiges und richtiges Wort gesprochen. Die private Flugsicherungsfirma mag unverantwortlich geschlampt haben. Haften muss indes der Staat, der für die Sicherheit seines Luftraums verantwortlich ist. Als Deutschland und die Schweiz vor drei Jahren einen vergleichsweise bescheidenen Fonds für die Hinterbliebenen einrichteten, sprach der Bundesverkehrsminister von einer "freiwilligen" Leistung. Das war ein Irrtum. Es handelt sich um eine Pflicht, und nicht nur um eine moralische. Astrid Hölscher

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Copyright © FR online 2006
Dokument erstellt am 27.07.2006 um 17:24:18 Uhr
Letzte Änderung am 27.07.2006 um 17:57:20 Uhr
Erscheinungsdatum 28.07.2006