Papier kritisiert „Entmachtung des Bundestages”
14. September 2003 Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier, hat deutliche Kritik am gegenwärtigen Zustand des politischen Systems in Deutschland geübt. Immer mehr Entscheidungen "von wirklich zentraler Bedeutung" würden von außerparlamentarischen Gremien und Kommissionen getroffen. Wenn diese Entwicklung fortschreite, nehme das parlamentarische System Schaden. "Ich halte das für sehr bedenklich", sagte Papier der Zeitung "Der Tagesspiegel am Sonntag". Papier sprach von einer "Entmachtung des Bundestages".
Eine schleichende Verlagerung der Kompetenzen vom Parlament auf außerparlamentarische Kommissionen könne jedoch nur "zum Teil" durch eine Verfassungsänderung abgewendet werden. Es müßten sich "das politische Bewußtsein und die Staatspraxis" ändern. Er sei jedoch der Ansicht, daß die Fraktionen im Bundestag inzwischen selbst erkannt hätten, daß ein Umdenken nötig sei. Papier hält eine Veränderung des Wahlrechts für denkbar und schließt auch die Einführung eines Mehrheitswahlrechts in Deutschland nicht aus. Er tadelte, fast alle gesetzgeberischen Entscheidungen, die gesamtgesellschaftliche Bedeutung hätten, würden in einer "Art stillen, informellen Allparteienkoalition" vorab besprochen und geregelt. "Darum wundert es mich nicht, wenn bei Reformen immer nur der kleinste gemeinsame Nenner herauskommt."
Eigentümliche Entwicklung
Auch der Föderalismus habe eine "sehr eigentümliche Entwicklung" genommen, in der die Länder, vor allem die Landesparlamente an Bedeutung verlören und der Bundesrat an Einfluß gewinne. Papier plädierte dafür, den Einfluß des Bundesrates zurückzuschrauben und das Bundesgebiet neu zu gliedern. Es müsse weniger, aber ähnlich leistungsstarke Bundesländer geben. Ohne eine solche Neuordnung sei der Föderalismus "dauerhaft nicht lebensfähig". Papier kritisierte, der Anteil der im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetze liege mittlerweile bei mehr als 60 Prozent: "Das ist viel zu hoch." Die Länder sollten mehr eigenständige Gesetzgebungsbefugnisse und größere Finanzautonomie erhalten. Justizministerin Zypries (SPD) sprach sich am Sonntag dagegen aus, die Lösung aller Probleme in einer einseitigen Verlagerung von Kompetenzen auf die Länder zu sehen. Sie sagte: "Am Grundprinzip des Bundesstaates, wonach Bund und Länder solidarisch füreinander einstehen, muß festgehalten werden." Papier ermahnte die Bundesregierung, Vorgaben der Verfassungsrichter für eine Neuordnung des Sozialsystems zu verwirklichen. Weder in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder noch im Arbeitsauftrag an die Rürup-Kommission habe er einen Hinweis darauf gefunden, daß die Berücksichtigung der Kindererziehung in der Beitragsleistungen zur Rentenversicherung geprüft werden solle, sagte Papier. Das Verfassungsgericht hatte im April 2001 entschieden, es sei nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, daß Eltern und Kinderlose mit gleich hohen Beiträgen zur gesetzlichen Pflegeversicherung belastet würden.
Die Richter hatten eine Änderung bis Ende 2004 angemahnt. Zudem sollte der Gesetzgeber prüfen, ob die Vorgaben dieser Entscheidung zur Pflegeversicherung auch für die anderen Sozialversicherungen gelten müßten. Papier zeigte sich darüber verwundert, daß dies bisher nicht geschehen sei. Das Thema spielte in der aktuellen Debatte um die Rentenreform keine Rolle.
Vorgaben zur Pflegeversicherung
Anders sei die Lage in der Pflegeversicherung, sagte Papier. Die Frist
31. Dezember 2004 wirke dort unmittelbar. "Wenn der Gesetzgeber bis dahin
die besondere Leistung der Familien - die Kindererziehung - nicht bei der
Beitragszahlung berücksichtigt, dürfen überhaupt keine Beiträge für die
Pflegeversicherung mehr erhoben werden", sagte Papier. Im Bundessozialministerium
werden derzeit nach Angaben eines Sprechers verschiedene Modelle erörtert,
wie den Vorgaben der Verfassungsrichter zur Pflegeversicherung Rechnung
getragen werden kann. Die Rürup-Kommission hatte in ihrem Abschlußbericht
grundsätzliche Bedenken gegen eine kinderzahlabhängigen Differenzierung
der Beitragssätze geäußert. Derzeit liegt der Beitragssatz zur Pflegeversicherung
bei 1,7 Prozent der Bemessungsgrundlage von 3450 Euro im Monat. Statt dessen
forderte die Kommission, die Erziehungsleistungen stärker im Steuerrecht
zu berücksichtigen. Allerdings hatte die Arbeitsgruppe Pflegeversicherung
in der Rürup-Kommission empfohlen, Kinderlose sollten künftig neben ihrem
Beitragssatz einen monatlichen Sonderbeitrag von zwei Euro zahlen. Auch
diese Option wird derzeit im Sozialministerium geprüft. Auch in ihren Reformvorschlägen
zur Rente wollte die Rürup-Kommission neue kindbezogene Leistungen vom
Bund übernehmen lassen. Der Familienlastenausgleich sei Aufgabe der Allgemeinheit
und damit des Steuerzahlers. Gegenwärtig dürfte es allerdings unrealistisch
sein, derartige Mittel einzufordern, heißt es in ihrem Abschlußbericht
weiter.
Text: ami./elo. / Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2003, Nr.
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