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03. November 2006
STAATSVERDRUSS
Diebstahl an Demokratie
Von Franz Walter
Von Turbokapitalisten verspottet, von kungelnden Politikern entwertet:
Über Jahre zollten die Machthaber der Demokratie wenig Respekt.
Nun rächt sich der lieblose Umgang. Das Volk will von der
wichtigsten gesellschaftlichen Errungenschaft der Neuzeit nichts mehr
wissen.
Es ist schon paradox: In den siebziger Jahren führt eine ganze
Generation gern und oft den Slogan von den "Legitimationsproblemen des
bürgerlichen Staates und der Demokratie" im Mund und auf den
Transparenten. Nur: Damals existierte dieses Legitimationsproblem gar
nicht. Denn das Gros der Wahlbürger war mit der Demokratie und den
staatlichen Einrichtungen, selbst mit den schnöden, vom
Souverän nie leidenschaftlich geliebten Parteien im Großen
und Ganzen recht zufrieden.
In jüngster Zeit aber hat sich die Einstellungen der Deutschen
fundamental gewandelt. Die Akzeptanz vieler demokratischer
Institutionen, besonders aber der Parteien und Regenten, ist nahezu
erdrutschartig zusammengestürzt. Seit dieser Woche wissen wir,
dass über die Hälfte der Bundesbürger mit der Demokratie
wenig bis gar nicht zufrieden ist. Und wir haben überdies
erfahren, dass gar zwei Drittel der Deutschen die bundesdeutsche
Gesellschaft für sozial ungerecht halten.
Insofern mögen wir nun wirklich in die Legitimationskrise des
bürgerlichen Staates hineinrutschen, von der in den vergangenen
und verblassten Rebellenzeiten nur leichthin ein wenig affektiert
verbalradikal fabuliert wurde. Nun aber scheinen die realen
Legitimationsdefizite der großkoalitionären Staates kaum
jemanden ernsthaft zu stören oder gar zu erregen.
Schließlich hat man schon derart häufig Krisenwarnungen
gehört, dass man allmählich gegen sorgenvolle
Zukunftsprognosen und Kassandrarufe rundum abgestumpft ist.
Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie: Vom Höhepunkt in
den siebziger Jahren ging es stetig bergab - vor allem nach der Einheit
Dabei ist das Problem derzeit zweifelsohne höchst brisant. Denn
schließlich: Moderne Demokratien werden immer mehr zu
Verhandlungsdemokratien in verschlossenen Räumen und informellen
Strukturen. Die Absprachen der politischen Klassen vollziehen sich
zunehmend in úndurchsichtigen Beziehungsgeflechten jenseits des
Parlaments und seiner Kontrollmöglichkeiten. Und angesichts der
gesellschaftlichen Komplexitäten wäre es ziemlich naiv, gegen
diese Entwicklung fundamentaldemokratisch mit Rousseau den offenen
Marktplatz der Entscheidungsfindung auszurufen.
Doch selbst die Voraussetzungen und Ergebnisse der weitgehend
unvermeidlichen verhandlungsdemokratischen Arrangements werden nicht
mehr, wie noch in den fünfziger und siebziger Jahren, mittels
einer offenen, harten und reflexiv angemessen inspirierten Debatte in
der parlamentarischen Arena ausgetragen, dadurch eben auch
interpretiert und gleichsam didaktisch erläutert. Deshalb fragen
sich mittlerweile nicht nur die notorischen Nörgler, Verdrossenen
und Frustrierten am Rand, sondern auch kluge, nachdenkliche und
partizipationsorientierte Menschen in der Mitte der Republik, welche
Rolle das Parlament eigentlich in der demokratischen und
intellektuellen Auseinandersetzung und Handlungsfindung überhaupt
noch einnimmt.
Wahrscheinlich wird diese skeptische Frage nach Ort und Wirksamkeit der
parlamentarischen Demokratie in naher Zukunft noch weit lauter und
ungeduldiger gestellt werden. Schließlich haben in den beiden
letzten Jahrzehnten die zentralen Orte der repräsentativen
Demokratie, die nationalen Parlamente, in einem atemberaubenden Tempo
an Durchschlagkraft und Macht verloren. Die entscheidenden
Weichenstellungen für das ökonomische, ökologische und
soziale Leben der Völker fallen in der Tat in halbklandestinen
Netzwerken, die nicht demokratisch gewählt wurden, die daher auch
nicht demokratisch abgewählt werden können, die durch
keinerlei demokratische Institutionen kontrollierbar sind.
Eben das aber geht fraglos und zwingend an die Legitimationswurzeln der
Demokratie. Gelungene Demokratien beendeten im 19. und 20. Jahrhundert
eine jahrhundertlange rhapsodische Volkskultur von Aufruhr, Aufstand
und Revolten. In funktionsfähigen, nationalstaatlich organisierten
parlamentarischen Demokratien war Gewalt weder nötig noch
berechtigt, da es nunmehr zivile, aufgeklärte und rationale
Instrumente der Einflussnahme und Kontrolle gab, durch die sich Wandel
friedlich vollziehen ließ.
Abschluss der klassischen
parlamentarischen Epoche
Doch stehen wir jetzt, zumindest im internationalen Zusammenhang,
unverkennbar am Abschluss der klassischen parlamentarischen Epoche.
Hinreichend bewusst aber machen wir uns das nicht. Denn wie mag, um
Montesquieu willen, die demokratische Organisation der vielzitierten
Weltgesellschaft real aussehen? Wenn sich institutionelle Strukturen
und Machtressourcen nicht finden lassen - und sie sind in der Tat
schwer auszumachen -, um die Entscheidungseliten in den globalisierten
Netzwerken demokratisch auszuwählen, zu kontrollieren und im
Bedarfsfall zu ersetzen, wird irgendwann die Frage nach der
Legitimität nichtdemokratischer Obstruktion emphatisch oder gar
militant auf der Tagesordnung stehen.
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ZUR PERSON : Franz
Walter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität
Göttingen. Bei KiWi ist jetzt sein Buch "Träume von Jamaika"
erschienen.
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Folgt man Richard Sennett, dann geht der gesellschaftliche Trend
insgesamt jedenfalls keineswegs zu den flacheren Hierarchien, von denen
rhetorisch in Managementseminaren in schönen Wellnesshotels gern
die Rede ist, sondern zu einer massiven Zentralisation von
Entscheidungen und Macht. Unplausibel ist das nicht, da in der Epoche
der dynamischen Beschleunigung von Informationsvermittlung,
Datenübertragung, Finanztransfers etc. Zeit für
ausführliche Diskussionen, für pluralismusorientierte
Abwägungen, für Transparenz kaum bleibt.
In der neuen, auf hohe Geschwindigkeit angelegten Wissensgesellschaft
bleibt nicht nur wenig Zeit für vertiefende Dialoge und
umspannende Diskurse von Entscheidungen, sondern es besteht
systemimmanent auch keinen Bedarf danach. In der inneren Logik
wissensgesellschaftlicher Sachgesetzlichkeiten handelt es sich dabei
nämlich lediglich um den Vollzug rein rationaler Imperative und
unabweislicher Notwendigkeiten.
Man muss angesichts dieser Entwicklung nicht so weit gehen wie Richard
Sennett, der von einer "weichen Spielart des Faschismus" spricht. Auch
muss man nicht Noam Chomsky folgen, der eine "moderne Form des
Totalitarismus" zu erkennen meint. Ebenfalls braucht man nicht
uneingeschränkt die Meinung von Frithjof Bergmann teilen, der den
Begriff der "Tyrannei" verwendet. Aber mit dem Liberalen Ralf
Dahrendorf den "Diebstahl von Teilhaberechten" beklagen oder mit dem
eher konservativen Peter Graf Kielmannsegg sich über den
"schwerwiegenden Substanzverlust des demokratischen Modus des
Regierens" zu sorgen, dafür allerdings gibt es schon einigen
Anlass.
Überdies hat der Wettbewerbs- und Entstrukturierungsfuror der
Deutungseliten nach zwei Jahrzehnten der diskursiven Hegemonie nicht
nur zu wünschenswerten Deregulierungen verknöcherter
Bürokratien und zu einem löblichen Anstieg
selbstverantwortlicher Individualität geführt, sondern eben
auch zu einer massiven Denunziation und Entwertung sozialstaatlicher
Normen - wie Fairness, Ausgleich, Integration, Verknüpfung,
Zusammenhalt, Solidarität - sowie zu einer Destruktion
sozialstaatlicher, klassenintegrierender, Bindungen stiftender
Institutionen. Die neuen, vielgelobten zivilgesellschaftlichen
Selbstinitiativen greifen indes nicht nach unten, verschränken die
heterogenen Gruppen nicht mehr in vertikaler Dimension, wie es der alte
Sozialstaatlichkeit noch als zentrale Maxime innewohnte.
Verheerende Ära von Rot-Grün
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BUCHTIPP Franz
Walter: "Träume von Jamaika. Wie Politik funktioniert und was die
Gesellschaft verändert." Verlag Kiepenheuer & Witsch; 250
Seiten; 8,95 Euro.
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Insofern hat der Reformimpetus der letzten Jahre nicht in erster Linie
zu einer befreienden Individualität, sondern - je weiter
gesellschaftlich nach unten reichend, desto stärker - vielmehr zu
einer negativen Individualisierung und damit zu dem von Franz
Müntefering bockig geleugneten "neuen Unten" geführt. Etliche
Einzelne bleiben zunehmend für sich, sind netzwerkunfähig,
handlungsgehemmt, vereinsamt und ungehört. Das trifft auch die
soziale Mitte der Gesellschaft, zum Beispiel im prosaischen
ökonomischen Alltag der Betriebe, da die Führungsspitzen
großer Konzerne kaum noch Rücksicht auf die mittleren Etagen
der Hierarchie nehmen.
Kurzum: Seit Jahren wird die Substanz der demokratischen Räume und
Umgangsweisen systematisch unterminiert, ohne dass das neue
Demokratiedefizit ein bemerkenswertes Thema in der öffentlichen
Debatte dieser Republik wäre. Verheerend geradezu wirkte sich die
rot-grüne Regierungsära aus. Denn Rot-Grün, das mit dem
Demokratisierungs- und Teilhabeversprechen begonnen hatte,
verstärkte noch den grassierenden Fatalismus und nahm die
Enteignung demokratischer Freiheiten hin, indem es den Determinismus
vorgeblicher Eigengesetzlichkeiten in Wirtschaft und Wissenschaft
bekräftigte. Die gegenwärtige Große Koalition
knüpft daran nahtlos an. Und so ordnet sich das politische
Establishment in Deutschland - von den Schwarzen bis zu den Halbroten,
von den Gelben bis zu den Grünen - den "Zwängen",
"Automatismen" und "Anpassungsnotwendigkeiten" einer zunehmend
demokratielosen globalen Marktgesellschaft unter.
Das etikettiert man dann als pragmatische Politik. Doch langsam wird
das Volk unverkennbar misstrauisch.
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