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Rede des AfA-Bundesvorsitzenden Ottmar Schreiner auf dem SPD-Parteitag in Karlsruhe am 14.11.2005

Er fordert nachhaltige öffentliche Investitionen

Wörtlicher Redetext aus dem Parteitagsprotokoll

Liebe Genossinnen und Genossen,

ich will ein paar Bemerkungen zu den Koalitionsvereinbarungen aus der Sicht der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen machen, die ich hier zu vertreten habe. Zunächst einmal ein uneingeschränktes Dankeschön dafür, dass es gelungen ist, die Tarifautonomie vor den Angriffen der konservativ-liberalen Parteien zu verteidigen.

(Beifall)

Dahinter steckte erkennbar die Absicht, die deutschen Gewerkschaften zu marginalisieren. Diese Absicht konnten wir durchkreuzen. Das ist ein wesentlicher Fortschritt im Rahmen dieser Vereinbarungen Erfreulich ist auch, dass es gelungen ist, die Steuerfreiheit von Arbeiten unter schwierigsten Bedingungen in der Nacht-, Schichtarbeit und dergleichen mehr gegen die Angriffe der anderen Seite zu sichern.Auch dazu ein Dankeschön im Namen der vielen Millionen Schichtarbeitnehmerinnen und Schichtarbeitnehmer in Deutschland.

(Beifall)

Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass Franz Müntefering heute in seiner Rede angekündigt hat, dass bereits im nächsten Jahr das wachsende Problem eines Niedriglohnsektors in Deutschland angegangen werden wird und angegangen werden muss. Wir haben es, liebe Kolleginnen und Kollegen, seit Jahren mit steigender Tendenz mit dem Anwachsen eines Armutslohnsektors zu tun, wo Menschen bei Vollzeitarbeit mit Löhnen von 700, 800, 1.100 Euro brutto nach Hause geschickt werden. Von diesen Löhnen kann kein Mensch sich selbst, geschweige denn eine Familie ernähren. Das, was im Ausland möglich ist - in Frankreich, in Großbritannien, in Luxemburg, in Belgien -, nämlich armutsfeste Mindestlöhne zu entwickeln, muss auch in Deutschland möglich sein, ohne dass der Gesamtverband der Arbeitgeberverbände zusammenbricht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall)

Nun einige kritische Bemerkungen, weil ich glaube, dass wir hier Probleme kriegen werden. Ich halte den Vorrang der Finanzkonsolidierungen vor den Wachstums- und Beschäftigungserfordernissen für äußerst problematisch. Es wird nicht gelingen, auf dem Rücken einer schwachen Konjunktur die notwendige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durchzuführen. Das bedeutet im Ergebnis, dass wir das Pferd vom Schwanze her aufzäumen. In den letzten Jahren hat Hans Eichel mehr Staatsausgaben gesenkt als jeder Finanzminister vor ihm. Gleichwohl ist die Verschuldung in einem beträchtlichen Maße gestiegen. Das nennen die Fachleute paradoxes Sparen. Wenn bei schwacher Konjunktur die öffentlichen Ausgaben zurückgefahren werden, dann hat das steigende Arbeitslosigkeit, höhere Staatsverschuldung, sinkende Steuereinnahmen und steigende Sozialkosten zum Ergebnis. Genau diesen Prozess müssen wir umdrehen, also: absoluter Vorrang für eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Finanzpolitik, für eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Gesamtstrategie. Die Behauptung, dass das Absenken der Lohnnebenkosten in Deutschland zu nennenswerten Beschäftigungseffekten führt, ist nicht zu halten und illusionär.

(Beifall)

Wenn wir die Lohnnebenkosten um einen Beitragspunkt absenken, führt das im Ergebnis dazu, dass bei einem großen Unternehmen die Gesamtpersonalkosten um 0,35 Prozent sinken. Die meisten deutschen Konzerne haben in den letzten Jahren von Jahr zu Jahr steigende Gewinne gemacht, zum Teil auf Kosten rabiaten Personalabbaus. Wenn jemand glaubt, weitere Geschenke an diese Adresse würden auch nur einen einzigen Arbeitsplatz bringen, der irrt sich ganz gründlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall)

Was wir brauchten, wäre ein nachhaltiger Ausbau der öffentlichen Investitionen. Die öffentliche Investitionsquote ist in eutschland so niedrig wie nie zuvor in unserer Geschichte. Wir brauchen eine Modernisierung der Infrastruktur, Maßnahmen zu Gunsten der Bauwirtschaft, eine Modernisierung der Schulen, der Universitäten, der Kindergärten. Hier haben wir riesige und wachsende Defizite. Damit würde man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, nämlich mehr Beschäftigung schaffen und die notwendigen Modernisierungseffekte in dem öffentlichen Infrastruktursektor denn auch besorgen, die überfällig sind. Ich wünsche mir ein Konzept, um den seit Jahren anhaltenden Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zu stoppen. Wir werden in diesem Jahr 400.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse weniger haben als im vergangenen Jahr. Das ist die Fortsetzung eines negativen Trends. Wenn wir diesen Trend nicht umkehren können, ist absehbar, wann die Finanzierungsgrundlagen der deutschen Sozialversicherung am Ende sind. Es ist eine zentrale Aufgabe, diese Entwicklung umzukehren.

(Beifall)

Nächste Bemerkung, Hartz IV. Der Koalitionsvertrag sieht Einsparungen in einer Größenordnung von 4 Milliarden Euro vor. Wir hatten in den letzten Wochen eine teilweise beschämende öffentliche Diskussion über einen massenhaften Missbrauch im Bereich der Arbeitslosengeld-II-Empfänger.

(Beifall)

Es mag in einzelnen Fällen Missbrauch geben. Wenn es keinen Missbrauch gäbe, hätten wir bei der Umsatzsteuer auch nicht eine Unterschlagung in der Größenordnung von 20 Milliarden Euro. Wenn bei den Arbeitslosen Telefonüberwachung stattfindet, warum findet keine Telefonüberwachung bei den Steuerflüchtigen statt, wo es um ganz andere Größenordnungen
geht, liebe Kolleginnen und Kollegen?

(Beifall)

Ich halte es für wirklich bedauerlich, dass wir es nicht geschafft haben, die Auffassungen der SPD, bezogen auf das rbeitslosengeld I, in die Koalitionsvereinbarungen hineinzuschreiben. Damit bleibt der negative Fahrstuhleffekt erhalten, dass ein 54-jähriger Arbeitnehmer oder eine 54-jährige Arbeitnehmerin nach jahrzehntelanger Arbeit im Falle der Arbeitslosigkeit nach einem Jahr Bezug von Arbeitslosengeld in der Armut landet. Das ist keine Belohnung für jahrzehntelange Arbeit, im Gegenteil – es ist eine Strafe. Das muss korrigiert werden.Was ungerecht war, bleibt ungerecht und wird auch in Zukunft ungerecht
bleiben.

(Beifall)

Es muss doch eine erstrangige Herausforderung erster Güte für eine Koalition sein, in der zwei Parteien dabei sind, die sich christlich nennen - sie müssten doch die Bergpredigt aus der Bibel kennen -, und in der zwei Parteien dabei sind, die sich sozial nennen, ein Programm gegen wachsende Armut und Kinderarmut in Deutschland aufzulegen
Allein wenn es in den kommenden Jahren gelänge, Armut und vor allem Kinderarmut in Deutschland nachhaltig zu reduzieren, dann würde sich eine solche Koalition große Verdienste erwerben. - Schönen Dank.