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SWR -   MANUSKRPTDIENST

Autor: Robert Kurz    SÜDWESTRUNDFUNK

Regie: Maria Ohmer   WISSEN/Schulfunk

Redaktion: Bettina Wenke

Von Putzmägden und Computersklaven

Die "arbeitende Armut" in den USA - ein Vorbild für die Welt?

Aus der Reihe: USA (5)

Sendung: Donnerstag, 31. Oktober 2002, 8.30 - 9.00 Uhr, SWR 2 Wissen
Produktion: 16. u. 17.10.02, 9.00-16.30 Uhr, Stuttgart, Studio 5

Besetzung:

Sprecher

Sprecherin

Zitatorin

Zitator

O-Töne Musik, O-Ton Barbara Ehrenreich.

Für die Musik: Zum Beispiel kurze Einblendungen aus Songs von US-Rappern mit sozialkritischen Texten, Leben im Slum etc. Evtl. ältere sozialkritische Folk-Songs (Pete Seeger). "Soup -Song", und "A dollar ain't a dollar any more", aus dem Album " Songs for political action" evtl. auch ganz neutrale Musik bzw. verfremdete Geräusche

U:Wenke/Amerika/Putzmägde.doc ArchivNr. 051-5408
 

Zitatorin:  "James Steyer ist Lehrer in Oakland, in einer der ärmsten Gegenden der USA. Er hat inzwischen einen Blick für Schüler entwickelt, die auffällig werden, weil sie nicht genug zu essen bekommen. Er erzählt von einem Zwölfjährigen, der die Größe eines Sechsjährigen hat: Ich habe einen Schüler, dessen Mutter ist gestorben und sein Vater arbeitet von 16 Uhr bis Mitternacht bei der Reisegepäck-Abfertigung am Flughafen. Ich habe ihn gefragt: Rafael, was machst du, wenn du abends nach Hause kommst? Und er hat mir erzählt, dass er zum Abendessen gern Kartoffeln isst. Ich wollte dann wissen, wie die Kartoffeln zubereitet sind. Darauf hat er gesagt: Mein Vater lässt mir jeden Abend eine Kartoffel zum Essen da. Ich fragte ihn: Wie kochst du sie? Und darauf meinte er: Ich koche sie überhaupt nicht, ich esse sie roh..."

Sprecher:  Dieser Bericht der Journalistin Ingrid Kölle aus dem Jahr 1992 macht auf ein beschämendes Problem in den USA aufmerksam, für das sich aber die Weltmacht Nr. 1 nicht besonders zu schämen scheint: Millionen Kinder im reichsten Land der Welt haben nachgewiesenermaßen nicht genug zu essen. Das ist ein Faktum, das wir sonst - schlimm genug -nur aus den Krisengebieten der Dritten Welt kennen. Für den angelsächsischen Kapitalismus in der USA und Großbritannien, als vorbildlich für die ganze Welt gerühmt, ist die Existenz eines großen Armutssektors so etwas wie eine natürliche Selbstverständlichkeit. In New York oder Washington waren Slums schon immer so normal wie in Sao Paulo oder in Bombay.

Sprecherin:  Nach landläufigem Verständnis neu ist allerdings die Ursache für die Armut. Für uns verbinden sich damit die Begriffe von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe. Unter dem Gesetz der Marktwirtschaft ist arm, wer keine Arbeit bekommt und auf das gestaffelte System der staatlichen Sozialleistungen angewiesen ist. Vom Arbeitslosengeld über die Arbeitslosenhilfe führt der soziale Abstieg auf die unterste Stufe, das bürokratisch definierte Existenzminimum. Bis vor nicht allzu langer Zeit war das in den USA nicht viel anders, wenn dort auch Sozialleistungen von der Allgemeinheit schon immer mit scheelen Augen betrachtet wurden und nie so weit entwickelt waren wie in einigen der kontinentaleuropäischen Länder. In den achtziger und verstärkt in den neunziger Jahren hat sich jedoch eine völlig andere Form der Armut herausgebildet: nämlich die "working poor", die so genannte "arbeitende Armut". Armut in den USA kann heute bedeuten, einem Vollzeitjob nachzugehen oder sogar in mehreren Jobs zu schuften.

Sprecher: Möglich wurde diese seltsame Errungenschaft durch eine ganze Serie von Sozialhilfe-Reformen unter den Präsidenten Reagan, Bush senior und Clinton. Das offizielle Ziel war stets ein hehres: Die Arbeitslosigkeit sollte überwunden und die Sozialhilfeempfänger, nicht zuletzt die alleinerziehenden Mütter, sollten aus ihrer Unmündigkeit und Abhängigkeit herausgeführt werden. Beide Ziele wurden unter eine einzige Definition gefasst: Arbeit um jeden Preis. Und der Preis der Arbeit, genauer gesagt der Arbeitskraft, ist bekanntlich der Lohn. Arbeit um jeden Preis heißt Arbeit zu extrem niedrigem Lohn, auch Billiglohn genannt. So entstand in den USA - und ähnlich in Großbritannien in den achtziger Jahren - ein großer und ständig wachsender Niedriglohnsektor nach dem Vorbild der Dritten Welt.

Akzent

Zitatorin: Es hatte sich ein ganz neuer Zug, etwas ekelhaft Serviles an mich geheftet, so nachhaltig wie die Küchendünste, die ich, wenn ich nachts meine Kleider ablegte, noch an meinem BH erschnüffeln konnte. In meinem realen Leben bin ich einigermaßen mutig, aber als Kriegsgefangene haben auch viele mutige Menschen ihren Mut verloren, und vielleicht geschieht etwas Ähnliches auch in dem viel harmloseren Milieu des amerikanischen Niedriglohnsektors.

Sprecherin: So erlebte es die bekannte amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich, die den sozialen Verhältnissen der arbeitenden Armut auf den Grund gehen wollte. Sie setzte sich jeweils für mehr als einen Monat den Billiglohnverhältnissen aus - als Serviererin in Florida, als Putzfrau in Maine, als Verkäuferin in Minnesota. Nachzulesen sind ihre Berichte in dem Buch .Arbeit poor, Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft". Es spricht Bände, wenn sie das Milieu dieser Arbeitsstellen mit dem demütigenden Schicksal der Kriegsgefangenschaft vergleicht. In Wirklichkeit ist das Phänomen der "working poor" weder der Sache, noch dem Namen nach, etwas Neues. Der Begriff entstand im England des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals ging es darum, den Heißhunger der Industrie nach billiger Arbeitskraft zu befriedigen. Heute dagegen werden immer mehr industrielle Arbeitskräfte durch die mikroelektronische Revolution überflüssig. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der USA läuft darauf hinaus, diese Massen von „Überflüssigen" auf Biegen und Brechen wieder in "arbeitende Arme" zurückzuverwandeln.

Sprecher: Bürokratischer Zwang ist angesagt. Die Sozialbehörden in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten werden die arbeitslosen Armen los, indem sie ihnen gemäß den neuen Sozialreform-Gesetzen einfach die Arbeitslosen- und Sozialhilfe sperren, wenn sie nicht freiwillig die Jobs im Niedriglohnsektor annehmen. Das kann nur noch zu einem kleinen Teil Fabrikarbeit sein. Meistens handelt es sich um Dienstleistungen aller Art, vom Hamburger braten und Bedienen im Restaurant über Telefonverkauf und Regale -Einräumen bis zur Haushaltsreinigung und zum Babysitten. Ein wachsender Teil dieser Dienste wird nicht individuell abgewickelt, sondern durch Dienstleistungs-unternehmen vermittelt, die liebend gerne Billiglohn-Kräfte beschäftigen.

Sprecherin: Durch diese Regelungen verlieren die Arbeitslosen alle Ansprüche. Die Armut bleibt dieselbe oder verschlimmert sich sogar, nur dass man jetzt dafür auch noch schwer arbeiten muss. Das auf diese Weise erzeugte "Jobwunder" ist keines. Die Arbeitslosigkeit wird nicht durch Arbeit nach dem bisherigen, in über einem Jahrhundert schwer erkämpften Standard ersetzt, sondern der Standard der Arbeit wird so weit abgesenkt, dass die Beschäftigung im Grunde genommen noch schlimmer ist als die Arbeitslosigkeit.

Sprecher: Natürlich will die offizielle öffentliche Meinung die Argumente der bösen Kritiker nicht akzeptieren. In den USA hat sich ein ganzer Zweig der Meinungsindustrie herausgebildet, der für die inzwischen von allen Parteien und sogar von den Gewerkschaften mitgetragene neoliberale Sozialreform eine massive moralische Aufrüstung betreibt. Früher hätte man das schlicht als Propaganda bezeichnet.

Sprecherin: Vielleicht ist das aber bloß Geschmackssache, vielleicht stellt der Niedriglohnsektor zumindest für einige Menschen tatsächlich eine Verbesserung dar. Es kommt ja immer darauf an, wie man sich fühlt. Die Geschichte vom unteremahrten und unterentwickelten kleinen Rafael kommt im offiziellen Gemälde der blühenden Landschaften des Niedriglohnsektors natürlich nicht vor. Aber vielleicht handelt es sich bloß um ein Problem von Vernachlässigung durch subjektives Fehlverhalten, und vielleicht trägt der Billiglohn im Normalfall gerade zur Überwindung der Elendsprobleme im reichsten Land der Welt bei, ganz so, wie es die offizielle Propaganda darstellt. Ist die neue "arbeitende Armut" am Ende eine satte, zufriedene und fröhliche Armut, die trotz allem ein wenig am Wohlstandskonsum teilhat?

Sprecher: Barbara Ehrenreich wollte es ganz genau wissen. Für ihre Nachforschungen wählte sie die Methode des Selbstversuchs, wollte am eigenen Leib erleben, wie es ist, wenn man mit einem Stundenlohn von maximal 8 Dollar auskommen muss, meistens bloß mit 6 oder 7 Dollar. Als Serviererin verdiente sie sogar lediglich 2,43 Dollar die Stunde, sie war also dringend auf Trinkgelder angewiesen. Ein durchaus übliches Verfahren im Gaststättengewerbe der USA. Nun ist natürlich der Begriff des Billiglohns immer relativ. Es kommt darauf an, wie hoch die Lebenshaltungskosten sind. Als größter Posten fällt dabei normalerweise die Miete an. Barbara Ehrenreich über ihre ursprüngliche Kalkulation und die harte Wirklichkeit:

Zitatorin: "Ich kalkuliere, dass ich bei einem Stundenlohn von sieben Dollar mir eine Monatsmiete von 500 Dollar leisten kann, bei eisernem Sparen vielleicht auch 600 Dollar, und dann immer noch 400 oder 500 Dollar für Essen und Benzin übrig habe. Damit bin ich in Key West und Umgebung weitgehend auf miese Pensionen und Mietwohnwagen verwiesen. Etwa auf den Wohnwagen, der bequeme 15 Autominuten von der Stadt entfernt steht, aber keine Klimaanlage, keine Sonnenjalousien, keine Ventilatoren und keinen Fernseher hat, dafür aber einen anderen Zeitvertreib bietet, nämlich die Aufgabe, dem Dobermann des Vermieters zu entkommen. Das große Problem dieser Unterkunft ist allerdings die Miete, die mit 675 Dollar pro Monat meine Möglichkeiten weit übersteigt. Ich wusste es ja, Key West ist teuer...Und doch ist es wie ein Schock, als mir klar wird, dass "trailer trash" (ein Wohnwagenpark) nunmehr eine demographische Kategorie ist, in die ich mich erst hocharbeiten muss".

Sprecher: Tatsache ist, dass sich niemand im Niedriglohnsektor der USA eine auch nur halbwegs anständige Wohnung leisten kann, wenn er nicht über zusätzliche Einkommensquellen verfügt.

Zitatorin: "Gail hat ein Zimmer in einer Absteige im Zentrum, für das sie und ihr Freund pro Woche rund 250 Dollar zahlen. Seit sie von ihrem Wohngenossen verprügelt wird, hält sie den Zustand nicht mehr aus, aber allein kann sie unmöglich die Miete aufbringen. Claude, der Koch aus Haiti, will unbedingt aus der Zwei-Zimmer-Wohnung raus, die er mit seiner Freundin und zwei wildfremden Menschen teilt. Soweit ich feststellen konnte, wohnen die anderen...in ähnlich beengten Verhältnissen... Die Hostess Joan, von deren zahlreichen schicken Klamotten ich mich zunächst blenden ließ, wohnt in einem Lieferwagen, den sie nachts hinter einem Einkaufszentrum parkt. Sie duscht in Tinas Motelzimmer und ihre Kleidung stammt, wie ich inzwischen weiß, aus Billigläden".

Sprecherin: Praktisch ist das Schicksal des US - Billiglöhners bei Vollzeitarbeit die Obdachlosigkeit. Viele schlafen wie die Hostess Joan im Auto, andere im Wohnwagen, in heruntergekommenen Absteigen oder als Schlafgäste gegen Bezahlung bei anderen "arbeitenden Armen". Nicht selten müssen sich drei oder vier einander ganz fremde Leute ein Zimmer teilen. Es sind Wohnverhältnisse wie in der Dritten Welt oder im 19. Jahrhundert. Die Journalistin ergattert bei ihrem strapaziösen Selbstversuch schließlich eine ausreichend billige Wohnwagen-Unterkunft:

Zitatorin: "Trailer Nummer 46 ist etwa 2,40 m breit, aber der Innenraum hat den Grundriss einer Kugelhantel: ein durch Spülbecken und Herd verengter Gang bildet die Verbindung zwischen der Schlafkoje und dem anderen Bereich, den man angesichts des Zwei-Personen-Tisches und der halben Couch mit viel Wohlwollen als "Wohnecke" bezeichnen könnte. Das Klo ist so winzig, dass meine Knie an der Duschbox scheuern, wenn ich auf der Toilette sitze... "

Sprecher: Eine nur halbwegs angenehme Wohnung kann man mit Billigjobs also nicht bezahlen. Dass man sich mit dem verdienten Geld auch nicht richtig ernähren kann, muss Barbara Ehrenreich ebenfalls zu ihrem Entsetzen sehr bald erfahren. Nicht einmal durch die Umstellung auf ungesunde Fast Food und Billigkonserven ist angesichts des schwindsüchtigen Geldbeutels ein voller Monat ohne Hungertage durchzuhalten. An ihren Kolleginnen in einer Putzkolonne nimmt die Journalistin erschreckende Erscheinungen wahr:

Zitatorin: "Ich ermahne Rosalie..., dass sie zu wenig isst (immer nur eine kleine Packung Doritos...). Sie sagt immer nur, es sei eben nichts anderes im Haus gewesen..., aber in Wirklichkeit hat sie schlicht kein Geld für ein Mittagessen. Das wird mir klar, als ich ihr Mineralwasser von einem Supermarkt mitbringen will und sie zugeben muss, dass sie die 89 Cent nicht hat...Auch bei Holly gibt es einen heiklen Punkt..Meiner Schätzung nach dürfte sie - vor dem Frühstück - nicht mehr als 42 Kilo wiegen, falls sie überhaupt ein Frühstück hat. Während der ganzen Schicht von acht bis neun Stunden isst sie nie mehr als ein winziges Zwieback-Sandwich mit Erdnussbutter.

Sprecherin: Das Leiden des kleinen Rafael also doch etwas mit den buchstäblichen Hungerlöhnen der "working poor" zu tun. Wenn vom Billiglohn oft schon 50 oder 60 Prozent für die Miete in menschenunwürdigen Quartieren drauf gehen, muss zwangsläufig auch am Essen gespart werden. Wer in die besseren Regionen des Niedriglohnsektors aufsteigt, muss zwar nicht mehr hungern, schafft es aber auch nur bis zur Sättigung durch fettreiches Fast Food. So sind Millionen Amerikaner entweder zu einem Dasein als Hungerkünstler verurteilt, oder sie werden durch Fehlernährung unförmig aufgeschwemmt.

Sprecher: Wehe aber, die bei einem derart entbehrungsreichen Leben zwangsläufig sich häufenden Krankheiten und körperlichen Defekte lassen die Leistungsfähigkeit sinken. Die Unternehmen erwarten, dass auch Kranke voll durcharbeiten, solange sie überhaupt noch gehen und stehen können. Krankmeldung ist verpönt, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall unbekannt. Wer Anzeichen von Schlappheit zeigt, muss befürchten, ohne viel Federlesens gefeuert zu werden. Aus Angst nehmen viele Billiglöhner Aufputschmittel, die wieder teures Geld kosten und vom Essen abgehen. Auch Krankenversicherung ist im Niedriglohnsektor meistens ein Fremdwort. Bei vielen Unternehmen beginnt der Versicherungsschutz von neu Eingestellten erst nach drei Monaten, und bis dahin sind sie oft schon wieder gegangen oder gegangen worden.

Zitatorin: "Nach der Krankenversicherung brauche ich gar nicht zu fragen, nachdem ich Carlotta getroffen habe, eine Afro-Amerikanerin mittleren Alters, die mich ausbilden wird. In ihrem Mund fehlen sämtliche oberen Schneidezähne... Und da ist die lockere Lucy, etwa Mitte 50, die ein rauhes Lachen hat und gegen Ende der Schicht immer zu hinken beginnt, weil etwas mit ihrem Bein nicht stimmt, aber was das genau ist, lässt sich mangels Krankenversicherung leider nicht herausfinden...

Sprecherin: Die Arbeitsbedingungen selbst sind, glaubt man den Erfahrungen von Barbara Ehrenreich, unglaublich mies. Schon bei der Einstellung beginnt die Kette der Demütigungen, zum Beispiel durch einen überall obligaten Drogentest. Damit die hoffnungsvollen Aspiranten auf einen Billigjob dabei nicht schummeln, müssen sie unter den Augen der Prüfpersonen in eine Flasche pinkeln. Für die Journalistin ein Horrorerlebnis. Und so geht es weiter, von Strafarbeiten wegen Langsamkeit oder Zu spät kommen bis zum geforderten Absingen der Firmenhymne nach japanischem Muster bei der Supermarktkette Wal - Märt. Die Beschäftigten werden nicht nur wie kleine Kinder behandelt, herumkommandiert und permanent überlastet; auch die hygienischen Bedingungen sind nicht selten zum Abgewöhnen, gerade im Gaststättengewerbe, wie sich bei der Beschäftigung im Fastfood -Restaurant "Jerry's" zeigt:

Zitatorin: "Im einzigen Wasch- und Toilettenraum (für beide Geschlechter) hängt ein Plakat mit den Hygienevorschriften, das zu gründlichem Händewaschen ermahnt, sogar mit genauen Instruktionen; aber von den entscheidenden materiellen Voraussetzungen - Seife, Papierhandtücher, Toilettenpapier - fehlt immer mindestens eine. Es gibt auch keinen Pausenraum, weil es bei "Jerry's" keine Pausen gibt. Über sechs oder sieben Stunden kommt man nicht zum Sitzen, es sei denn beim Pinkeln".

Sprecher: Aber nicht einmal das ist garantiert. Denn jede Zeit, auch die ordinäre Pinkelzeit, die während des Arbeitstages nicht als geldwerte Leistung verausgabt wird, sondern vom Standpunkt des Profits aus gesehen durch schiere biologische Lebensvorgänge bloß nutzlos verpufft, ist dem Management ein Dorn im Auge. In der so genannten "Unternehmenskultur" der USA hat sich dafür seit langem der Begriff des "Zeitdiebstahls" eingebürgert. Und im Prinzip ist auch der Gang zur Toilette ein solcher Zeitdiebstahl. Die Sozialwissenschaftler Marc Linder und Ingrid Nygaard haben sogar allen Ernstes über das Recht zu urinieren ein Buch geschrieben : "The Right to Urinate in Company Time", das 1997 erschienen ist. Darin heißt es:

Zitator: "Während wir über die Entdeckung entsetzt waren, dass Arbeiter kein anerkanntes Recht auf einen Toilettengang während der Arbeit haben, waren die Arbeiter erstaunt über den naiven Glauben von Außenstehenden, dass ihre Arbeitgeber ihnen gestatten würden, diesem elementaren körperlichen Bedürfnis nachzukommen, wenn es nötig wird... Eine Fabrikarbeiterin, der über sechs Stunden keine Pause gestattet wurde, musste sich in Papierwindeln entleeren, die sie in ihrer Arbeitskleidung trug...".

Sprecherin: Wenn nicht alles täuscht, sind solche Zustände im Menschenrechts-Paket von "freedom and democracy" Inbegriffen, das der ganzen arbeitslosen Welt als soziales Gare-Paket aufgenötigt werden soll. Die Freiheit, dem Harndrang einigermaßen in Würde nachgeben zu dürfen, scheint dabei keineswegs garantiert zu sein. Jedenfalls nicht für alle wahlberechtigten Staatsbürger.

Sprecher: Das ist ja Polemik, sagt an dieser Stelle vielleicht das transatlantische Bündnisgewissen einigermaßen pikiert. Andererseits sind es leider auch beglaubigte Fakten. Aber vielleicht geben diese Fakten die soziale Wirklichkeit der USA nicht repräsentativ wider. Vielleicht handelt es sich bloß um die berühmten Auswüchse auf einem ansonsten ganz passablen sozialen Körper. Immerhin hatten die USA auch andere Sektoren mit hohem Arbeitsplatz-Zuwachs in den 90er Jahren, zum Beispiel die Medienbranche, Telekommunikation, Internet, Softwareindustrie, Werbung usw. Und dort geht es ja wohl viel lukrativer und lockerer zu, wie oft genug zu hören war. Man denke nur an das legere, geradezu antiautoritäre Betriebsklima in den jungen Start -up- Unternehmen der so genannten New Economy. Oder etwa nicht?

Sprecherin: Ganz anderer Meinung sind da Betroffene und Insider. Für sie stellt sich die soziale Wirklichkeit an der Front des technischen und medialen Fortschritts, an dessen Spitze angeblich die USA marschieren, völlig anders dar. Bill Lessard und Steve Baldwin, zwei alte Hasen des so genannten Hochtechnologie-Sektors, die mit dem Internet-Business seit ihren Teenager-Zeiten ins Berufsleben hineingewachsen sind, haben über ihre Erfahrungen ein Buch geschrieben, das zunächst niemand haben wollte, bis es im Frühjahr 2000 im New Yorker Verlag McGraw-Hill doch noch erscheinen konnte. Es trägt den bezeichnenden Titel "Computersklaven", gemeint sind hier vor allem Programmierer, Webdesigner und auch diejenigen, die die Apparate am Laufen halten. Und die Autoren sagen auch gleich, warum ein ungeschminkter Bericht, wie der ihre, bei der Meinungsindustrie der USA nicht besonders willkommen ist:

Zitator: "Es gibt einen sehr guten Grund, warum die Leute nicht darüber reden wollen, wie hart es im Arbeitsalltag des Internetgeschäfts wirklich zugeht. Die Kultur des neuen Kapitalismus und die großen Medien, die für sich in Anspruch nehmen, diese Kultur zu repräsentieren, sind vom Erfolg geradezu besessen. Viele Journalisten, die über das Netz schreiben, wissen praktisch nichts über die Leute in dieser Branche - weder wer sie wirklich sind, noch was sie tatsächlich tun.

Sprecher: In Wirklichkeit, so deutet dieser Hinweis an, geht es in den vielgerühmten Dienstleistungsbereichen der High-Tech-Branchen kaum anders zu als bei den Putzkolonnen oder in den Fastfood - Restaurants. Vor frühkapitalistischen Arbeitszeiten und mangelnder Sozialversicherung schützt auch die technische Qualifikation keineswegs. Autor Bill Lessard berichtet:

Zitator: Ich bin der lebende Beweis dafür, dass die meisten Internet-Karrieren aufreibend, beschissen und kurz sind - und damit stehe ich nicht allein da. Mein Mitautor Steve zum Beispiel hat sich während der letzten 7 Jahre als Freelancer - als Freier Mitarbeiter- verheizen lassen und musste ohne Sozialversicherung von der Hand in den Mund leben. Dem Rest unserer Kollegen geht es kaum besser. Nehmen wir Joe... Eigentlich ein talentierter Programmierer, leckt er gerade wieder mal die Wunden, die ihm durch eine brutale Säuberungsaktion in seinem Unternehmen gerissen wurden: In einem Verzweiflungsakt hat das Management 1000 Angestellte rausgeworfen (seine zweite Entlassung allein in diesem Jahr) und die Firmengröße auf die Hälfte geschrumpft. Oder die Web-Designerin Suzie...Gerade hat sie einen Job aufgegeben, in dem sie 14 Stunden am Stück arbeiten mußte, nur um woanders zu landen, wo sie noch härter schuftet - jetzt hat ihr Arbeitstag im Schnitt 16 Stunden".

Sprecherin: Nicht nur die Arbeitsbedingungen der meisten Beschäftigten im High-Tech-Sektor sind denen im untersten Dienstleistungsbereich zum Verwechseln ähnlich. Auch die Bezahlung bewegt sich auf einem Niveau, das nur unwesentlich höher ist. Und so bleibt auch den vermeintlichen Helden der digitalen Zukunft das Armutserlebnis bei hochqualifizierter Überarbeitung nicht erspart, bis hin zur Essensfrage. Wird ihnen gekündigt, dann stehen sie ohne Absicherung da, und das kann von heute auf morgen geschehen. Mit bitterer Ironie entwerfen Bill Lessard und Steve Baldwin einen kleinen Fragebogen, dessen Beantwortung darüber Aufschluss geben kann, ob man zu den „Computersklaven" gehört oder nicht:

Zitator: "Sind Sie eine dieser herumziehenden, gesichtslosen Drohnen, die vom Website-Programmieren leben? Glauben Sie, dass eine Krankenversicherung nur was für Schwächlinge ist? Hat man Ihnen schon mal einen ungedeckten Scheck untergejubelt? Waren Sie jemals gezwungen, mit der entwürdigenden Bezeichnung „Aushilfe" auf Ihrem Namensschild herumzulaufen? Mussten Sie sich schon mal entscheiden, ob Sie Ihrer Katze oder sich selbst was zu essen kaufen?...".

Musik, kurze Einblendung...

Sprecher: Die offizielle Armutsrate in den USA beträgt 13 Prozent; aber sie wird, wie Barbara Ehrenreich moniert, nach einem völlig veralteten Schlüssel aus den 60er Jahren ermittelt, der zum Beispiel die seitherige Inflation der Mietpreise überhaupt nicht berücksichtigt. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 1998 verdienen 30 Prozent der Beschäftigten in den USA acht Dollar pro Stunde oder weniger. Die meisten Einkommen sind auf das Niveau von 1973 oder sogar darunter gesunken, während die Preise Jahr für Jahr gestiegen sind. Nach einer Untersuchung des Economic Policy Instituts in Washington entspricht der zum Lebensunterhalt ausreichende Mindestverdienst für eine alleinverdienende Person und zwei Kinder einem Stundenlohn von 14 Dollar und nicht von 6 bis 8 Dollar, wie vielfach üblich. Dazu Barbara Ehrenreich:

Zitatorin: "Natürlich ist dies nicht das absolute Minimum, das eine Familie zum Leben braucht. Dieses Familienbudget enthält zum Beispiel die Ausgaben für eine Krankenversicherung, für ein Telefon und für einen ordentlichen Kinderhort, die für Millionen Menschen unerschwinglich sind. Andererseits sind weder Restaurantbesuche noch Video-Leihgebühren vorgesehen, weder ein Internetanschluß noch Wein und andere alkoholische Getränke, weder Zigaretten noch Lotteriescheine, und auch nur wenige Fleischgerichte. Doch jetzt kommt der schockierende Befund: Die meisten arbeitenden Menschen in den USA - etwa 60 Prozent -verdienen weniger als 14 Dollar in der Stunde".

Sprecherin: Es ist kein Zufall, dass das angelsächsische Modell des Billiglohns in der ganzen westlichen Welt zum Königsweg aus der Misere der Massenarbeitslosigkeit hochgejubelt wurde. Denn die Ökonomen wissen, dass es nie mehr Vollbeschäftigung auf dem Niveau des bisherigen westlichen Lebensstandards geben wird. Im Klartext: Es handelt sich um Systemversagen. Weil man sich das aber nicht eingestehen will, soll die anschwellende Masse der "Überflüssigen" gerade mit den Mitteln staatsbürokratischen Zwangs in den immer weiter ausgedehnten Sektoren einer künstlich geschaffenen "arbeitenden Armut" statistisch unsichtbar gemacht werden. Auch in Deutschland schießen die Kommissionen, die Wege in den Billiglohn nach dem Vorbild der USA eröffnen sollen, wie die Pilze aus dem Boden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein kluger Ökonom das "Fehlen eines funktionierenden Niedriglohnsektors" beklagt.

Sprecher: Die 80-Stundenwoche mit zwei oder drei Jobs und trotzdem nicht genug Geld für eine Wohnung, drittklassige oder gar keine medizinische Versorgung, Hunger und Fehlernährung - soll das die Zukunftsperspektive für einen wachsenden Teil der Bevölkerung sein? Zurück in die Armutszeit des Frühkapitalismus, obwohl die Produktionskräfte tausendfach gesteigert wurden, die meisten Menschen viel besser ausgebildet sind und mehr leisten als früher? Die Frage drängt sich auf, ob und wie lange sich die Menschen das gefallen lassen. Die Antwort der letzten Weltmacht USA auf die neue soziale Frage ist keine Antwort, das Vorbild ist kein Vorbild.

Sprecherin: Die andere Frage ist, ob die Rechnung überhaupt ökonomisch aufgehen kann. Wenn die Sektoren der "arbeitenden Armut" zu groß werden, woher soll dann noch die Kaufkraft für die Konjunktur kommen? Auch in dieser Hinsicht war die Lösung der 90er Jahre eine Scheinlösung. Dem Niedriglohn in den USA und der Arbeitslosigkeit in der EU entsprach spiegelbildlich eine immer weiter aufgeblähte Finanzblase an den Börsen. Die Konjunktur in den USA boomte, weil ein relativ großer Teil der Bevölkerung mit Aktienbesitz durch die fiktiven Wertsteigerungen an der Börse tatsächlich unabhängig vom wirklichen Lohneinkommen konsumieren konnte, während der große Rest darben musste. In den High-Tech-Sektoren wurden die Beschäftigten teilweise sogar mit Aktien-Optionen statt mit Tariflohn bezahlt.

Musik:

Sprecher: Inzwischen hat die große Baisse an den Weltbörsen auch „Gottes eigenes Land" erfasst. Die fiktiven Vermögenswerte werden Monat für Monat in einer Größenordnung von mehreren Milliarden Dollars verbrannt. Wenn die mehrheitlich hoch verschuldeten Amerikaner nur noch von ihrem wirklichen Lohn leben können, droht die Konjunktur abzustürzen. Dann könnte es mit der fragwürdigen Herrlichkeit des Billiglohns bald ebenso vorbei sein wie mit der ebenso fragwürdigen Weltmachtherrlichkeit.

Musik:
 

Literaturhinweise:
Lessard, Bill, Baldwin, Steve:
Computersklaven
ISBN 3.421-05363-4

Ehrenreich, Barbara
Arbeit poor
Antje Kunstmann Verlag, München
ISBN 3888972833