Zurueck zur Homepage
Deutscher Bundestag Drucksache 16/3914, 16. Wahlperiode 14.12.2006
Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll,
Werner Dreibus, Ulla Lötzer, Kornelia Möller, Dr. Axel
Troost, Sabine Zimmermann, Dr. Gregor Gysi,Oskar Lafontaine und der
Fraktion DIE LINKE.
Privatisierungsfolgen seriös bilanzieren – Privatisierungen
aussetzen
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. gemeinsam mit den anderen deutschen Gebietskörperschaften einen
Privatisierungsbericht über die Auswirkungen der Privatisierungen
seit 1995 vorzulegen.
2. bis zur Vorlage und Diskussion des Privatisierungsberichtes keine
weiteren Privatisierungsschritte zu unternehmen.
3. Der Privatisierungsbericht der Bundesregierung soll für die
privatisierten Bereiche darstellen:
- die Privatisierungsschritte der öffentlichen Hand
- die Ergebnisse aller Volksabstimmungen einschließlich
Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, die zu Fragen der
Privatisierung durchgeführt wurden
- die Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen
- die Auswirkungen auf politische Gestaltungsmöglichkeiten
(Einflussmöglichkeiten auf Geschäftsführung und
Informationsrechte der öffentlichen Hand), Mitbestimmungsrechte
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Informationsrechte für
Bürgerinnen und Bürger
- die Entwicklung von sozialversicherungspflichtiger und sonstiger
Beschäftigung, Arbeitsentgelten nach Lohngruppen,
Managementgehältern und Ausbildungsplätzen
- die Auswirkungen auf Wochenarbeitszeit, Sonntags- Feiertags- und
Nachtarbeit und Schichtarbeit
- die Entwicklung von Preisen, Gebühren und Gewinnen
- die Entwicklung von Qualität der Leistung, Verbrauchernähe
und flächendeckender Versorgung und
- die Entwicklung der Investitionen.
Dem Bericht ist ein weiter Privatisierungsbegriff zugrunde zu legen,
der neben dem Verkauf von Beteiligungen und sonstigen
Vermögenswerten auch die Ausgliederung öffentlichen
Vermögens in privatrechtlich organisierte Unternehmungen und die
Übertragung öffentlicher Aufgaben an private Unternehmen
beinhaltet.
Die Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen sollen umfassend
untersucht werden. Den Privatisierungserlösen sind die
Vermögensverluste und die zukünftigen Mehrausgaben und
Einnahmeverluste gegenüberzustellen. Steuermindereinnahmen durch
internationale Transferierbarkeit
von Gewinnen oder durch Steuervergünstigungen etwa bei
öffentlich-privaten Partnerschaften (Public Private Partnerships)
sind zu berücksichtigen. Es soll auch berücksichtigt werden,
inwieweit durch Personalabbau Steuereinnahmen und Sozialbeiträge
sinken. Bei der Darstellung der Entwicklung von
Beschäftigung und Ausbildung ist auf die Situation von Frauen
speziell einzugehen. Es ist anzugeben, inwieweit die
Verschuldungsgrenze des Art. 115 Abs. 1 GG und der
entsprechenden Bestimmungen in den Länderverfassungen nur aufgrund
von Privatisierungserlösen eingehalten wurden.
Die Darstellung der Preisentwicklung in privatisierten Bereichen soll
nach Geschäfts- und Privatkundensegment unterscheiden. Hierbei ist
zu berücksichtigen, inwieweit die Preisentwicklung auf allgemeinen
technischen Fortschritt zurückzuführen ist, der auch in
öffentlich-rechtlichen Unternehmen realisiert werden kann. Als
Maßstab hierfür sind internationale Vergleichsstudien
heranzuziehen. Auf die Entwicklung von Sozialtarifen ist einzugehen.
Der Privatisierungsbericht soll damit deutlich über den
Beteiligungsbericht des Bundes hinausgehen.
Berlin, den 13. Dezember 2006
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion
Begründung
In zahlreichen Bürger- und Volksentscheiden wurden
Privatisierungen öffentlichen Eigentums abgelehnt, beispielsweise
in Hamburg und in Mülheim/Ruhr. Einer Umfrage im Auftrage des
Sparkassen- und Giroverbandes Hessen-Thüringen zufolge sind 82%
der Hessen gegen einen Verkauf von Sparkassen.
Aktuell geplante Privatisierungen sind sehr umstritten. Gegen den Plan
der Regierung Baden-Württembergs, den größten Teil der
historischen Handschriftenbestände der Badischen Landesbibliothek
zu verkaufen, und damit das Fürstenhaus Baden aus einer
finanziellen Notlage zu retten, protestierten Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler aus aller Welt und verhinderten den Verkauf bis auf
weiteres.
Das Flugsicherungsgesetz, das den Verkauf von 74,9 Prozent der Anteile
an der Deutschen Flugsicherung GmbH vorsieht, wurde vom
Bundespräsidenten zunächst nicht unterschrieben, um
verfassungsrechtliche Bedenken zu prüfen. Bestärkt wird die
Kritik an der Privatisierung der Flugsicherung durch das Urteil des
Landgerichts Konstanz zum Flugunglück von Überlingen, in dem
die Bundesrepublik Deutschland haftbar gemacht wird, da sie ohne
Staatsvertrag die Flugsicherung in deutschem Luftraum der
privatrechtlich organisierten Schweizer Firma Skyguide übertragen
hatte. Das Gericht stellte fest, dass die Sicherstellung des
Flugverkehrs grundgesetzliche Aufgabe des Staates ist.
Umstritten ist auch der Börsengang der Deutschen Bahn AG. Kritiker
befürchten einen Verkauf weit unter Wert, Personalabbau,
großflächige Streckenstillegungen, einen Rückgang der
Investitionen und stark steigende Preise. Sie verweisen dabei auf die
Bilanz der Bahnprivatisierung in Großbritannien
Die Bundesregierung plant für 2007 laut Haushaltsentwurf Einnahmen
aus der Veräußerung von Beteiligungen und aus der Verwertung
von sonstigem Kapitalvermögen in Höhe von 9,2 Milliarden
Euro. Angesichts umfangreicher geplanter Privatisierungen und
ernstzunehmender Kritik ist es dringend erforderlich, eine Bilanz der
Auswirkungen der bisherigen Privatisierungspolitik zu ziehen.
Privatisierungserlöse werden dazu verwendet, Einnahmeverluste an
anderer Stelle auszugleichen. Laut Finanzplanung will der Bund bis 2009
so haushalten, dass die Verschuldungsgrenze nur dank
Privatisierungserlöse eingehalten wird. Dies läuft dem
Grundgedanken des Art. 115 GG zuwider, die Vermögenssubstanz des
Staates zu erhalten. Das Sachvermögen des Staates geht, gemessen
am Bruttoinlandsprodukt, seit Jahren kontinuierlich zurück.
Privatisierungen führen neben den
Vermögensverlusten auch zu nachhaltigen Einnahmeverlusten für
die öffentliche Hand. Vor weiteren Privatisierungsschritten
müssen diese Auswirkungen dringend detailliert untersucht werden.
Auf eine kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. nach den
Einnahmeverlusten, die mit den Einmaleinnahmen im Haushaltsplan 2007
verbunden sind, antwortete die Bundesregierung: „Im Übrigen
entfallen im Rahmen von Vermögensveräußerungen des
Bundes generell künftige Vermögenserträge, deren
Höhe – wie etwa bei Dividenden – gegenwärtig jedoch nicht
prognostiziert werden kann.“ (BT-Drs. 16/2327) Dieser Aussage ist zu
entnehmen, dass die Bundesregierung eine bewusste Abwägung
zwischen der kurzfristigen und langfristigen Haushaltswirkung bisher
nicht vorgenommen hat. Der angemessene Umgang mit der Ungewissheit der
zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung ist nicht der Verzicht
auf Prognose, sondern die Anwendung wissenschaftlicher Prognosemethoden
unter Kenntlichmachung von Prognoseunsicherheiten. Dies soll im
Privatisierungsbericht geschehen.
Die Privatisierungen von Post und Telekom waren mit hohen Arbeitsplatz-
und Ausbildungsplatzverlusten verbunden. Allein die Telekom AG hat von
ihrer Privatisierung bis 2005 mehr als 100.000 Stellen gestrichen. Bis
2008 sollen weitere 32.000 Stellen abgebaut werden. Vor weiteren
Privatisierungen müssen die bisherigen Privatisierungsfolgen
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewissenhaft untersucht
werden.
Privatisierungsmaßnahmen wurden meist mit erwarteten
Effizienzgewinnen begründet. Es stellt sich die Frage, inwieweit
für die Verbraucherinnen und Verbraucher, nicht nur für
Großkunden, die Versorgung mit günstigen und hochwertigen
Leistungen durch Privatisierungen zugenommen hat. Versorgungsdichte und
Bürgernähe haben etwa bei der Post abgenommen. Sozialtarife
wurden bei privatisierten Unternehmen teilweise zurückgenommen.
Bei der Feststellung von Effizienzgewinnen darf nicht stillschweigend
angenommen werden, ein öffentliches Unternehmen würde heute
noch mit der Technologie arbeiten, die zum Zeitpunkt der Privatisierung
aktuell war.
Privatisierung und Liberalisierung von so genannten natürlichen
Monopolen, also in Wirtschaftszweigen mit sinkenden
Durchschnittskosten, und in netzgebundenen Wirtschaftszweigen haben,
wie von fast allen Wirtschaftstheorien vorausgesagt, zu Monopolgewinnen
geführt. Vor einer Untersuchung dieser Entwicklung darf die
geplante Privatisierung von Deutsche Flugsicherung GmbH, Bahn AG und
Flughafenbeteiligungen keinesfalls umgesetzt werden.
Auf der Ebene der Länder und Kommunen sind Privatisierungen eine
Antwort auf Haushaltsnotlagen, die unter wesentlicher Beteiligung der
Bundesregierung durch steuerpolitische Entscheidungen verursacht
wurden. Da diese Entwicklung nur aus dem finanzpolitischen Zusammenhang
zu beurteilen ist, muss der Privatisierungsbericht die
Ebene des Bundes, der Länder und Gemeinden berücksichtigen.
Bereits 1998 forderte der Deutsche Gewerkschaftsbund einen
Privatisierungsbericht von der Bundesregierung ein. Die Bundesregierung
sollte dieser Aufforderung zügig nachkommen.