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Zeit des Abnickens ist vorbei 

Franz Münteferings Rücktritt bietet der SPD eine Chance, zu sich selbst zu finden

Endlich bewegt sich etwas bei den Sozialdemokraten: Der neue Vorstand um Platzeck muss Konflikte aushalten, um über den Tag hinaus eine überzeugende Politik zu entwickeln.

VON PETER CONRADI

Zuerst die Sachfragen klären, dann die Personalfragen - das war bislang immer die Reihenfolge für Koalitionsverhandlungen. Das ist vernünftig, denn so lange die Personalfragen offen sind, bemühen sich alle, die auf ein Amt hoffen - und ihre Zahl ist stets größer als die Zahl der verfügbaren Ämter -, um konstruktive Zusammenarbeit. Was um alles in der Welt hat Angela Merkel und Franz Müntefering bewogen, zuerst die Personalentscheidungen zu treffen? Die Koalitionsverhandlungen über die strittigen Sachfragen sind dadurch nicht einfacher geworden, zumal Merkel und Müntefering in ihren Parteien keine offene Diskussion über ihre Politik der letzten Jahre, über den Bundestagswahlkampf und über das Wahlergebnis wollten. Die SPD-Führung wollte nicht begreifen, dass sie ihre Ziele, die Arbeitslosigkeit deutlich zu senken und die soziale Gerechtigkeit zu stärken, verfehlt hat. Mit ihrer präpotenten Forderung "Gerhard Schröder muss Kanzler bleiben" tat sie so, als hätte sie die Wahl gewonnen, obwohl sie in den letzten sieben Jahren ein Fünftel ihrer WählerInnen verloren hat.

Doch nach diesem für die Union wie für die SPD verheerenden Wahlergebnis kann es kein dumpfes "Weiter so!" einer Koalition der Wahlverlierer geben. In der Union hat der Streit zwischen den Vertretern des neoliberalen Wirtschaftsflügels (Merz, Oettinger, Junge Union u.a.) und den Befürwortern einer christlich-sozialen Politik (Seehofer, Rüttgers, Laumann u.a.) begonnen. Stoibers überraschender Rückzug nach Bayern wird diese Auseinandersetzung nicht entschärfen.

Endlich bewegt sich etwas

Die SPD beginnt allmählich, ihre Lage zu begreifen: Die Entscheidung des SPD-Parteivorstands für Andrea Nahles und gegen Müntefering war kein Betriebsunfall, sie macht deutlich, dass die Zeiten des "Durchregierens" in der SPD vorbei sind. Nach allem, was Schröder und Müntefering ihrer Partei von oben zugemutet haben, von der Agenda 2010 bis zur verfassungsrechtlich fragwürdig vorgezogenen Bundestagswahl, war diese Entscheidung ein Gebot der Selbstachtung für eine demokratische Partei. Endlich bewegt sich etwas in der SPD, und die Flügelmänner und -frauen der rechten Seeheimer Kanalarbeiter, der Netzwerker und der Partei-Linken müssen zeigen, dass es ihnen um mehr geht als um ihre Karrieren, dass sie fähig sind, nach der Ära Schröder einen politischen Neubeginn zu wagen.

Müntefering wollte die SPD durch ordentliches Mitregieren in der großen Koalition wieder mehrheitsfähig machen. Dazu brauchte er eine folgsame, ruhige Partei mit einem gehorsamen Generalsekretär. Doch die SPD muss, wenn sie wieder Wahlen gewinnen will, neben der Regierungsarbeit in der großen Koalition - so diese denn zustande kommt - als Partei eigene, weiterreichende politische Vorstellungen für eine wirksame Arbeitsmarktpolitik, eine langfristige Energiepolitik, eine gerechte Steuerpolitik und für die Zukunft des Sozialstaats entwickeln. Keine leichte Aufgabe gegen das die Medien beherrschende neoliberale Kartell.

Aus der Opposition - unter Duldung einer CDU/CSU-Minderheitsregierung bei punktueller Zusammenarbeit - wäre die Entwicklung eines neuen politischen SPD-Profils sicher einfacher. Aber für solche vernünftige Konstruktionen, wie sie in Skandinavien üblich sind, ist Deutschland offensichtlich noch nicht "erwachsen" genug.

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Der Autor

Peter Conradi, Jahrgang 1932, saß von 1972 bis 1998 für die SPD im Bundestag. Im Juli 2005 hatte der Architekt aus Stuttgart in der FR bekannt gemacht, dass er aus Protest gegen die von ihm als unsozial eingestufte Politik von Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Parteimitgliedschaft ruhen lasse. Sein beruflicher und politischer Schwerpunkt war die Stadtentwicklung. Er setzte sich gegen die Verödung der Städte ein. 1999 bis 2004 bekleidete er das Amt des Präsidenten der Bundes- architektenkammer. aud
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In der großen Koalition wird die Erarbeitung einer eigenen und erkennbaren SPD-Politik notwendigerweise zu Konflikten mit der von der SPD mit getragenen Bundesregierung führen, zumal diese Koalition in der Arbeits- und Sozialpolitik von den neuen Linken, in der Umwelt- und Energiepolitik von den Grünen heftige Kritik und diskussionswürdige Alternativen erwarten muss. Eine derartige Doppelstrategie - gute Arbeit in der Bundesregierung leisten und in der SPD eine überzeugende Politik über den Tag hinaus zu entwickeln - erfordert Offenheit, Bereitschaft zur Diskussion und zum Ertragen von Konflikten. Das ist die Aufgabe für den neuen SPD-Parteivorstand und für die neue SPD-Bundestagsfraktion.

Generation Platzeck

Unter Schröder und Müntefering waren selbständig denkende SPD-Abgeordnete nicht gefragt, Widerspruch wurde mit Basta abgetan. Mit Matthias Platzeck tritt nun eine neue Generation an, die sich nicht mit parteitaktischen Spielereien, sondern mit politischen Inhalten profilieren muss. Die Zeit des Abnickens und Durchwinkens der von oben getroffenen Entscheidungen ist vorbei, jetzt muss selbst gedacht und offen diskutiert werden. Gelingt das, dann kann die SPD auch wieder interessant für viele werden, die sich in den letzten Jahren enttäuscht von ihr abgewandt haben. Deshalb ist Münteferings Rücktritt für die SPD kein Unglück, er kann eine Chance sein.

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005
Dokument erstellt am 04.11.2005 um 20:08:18 Uhr
Erscheinungsdatum 05.11.2005