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Süddeutsche Zeitung vom 04.01.2008
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/106/150732/

Mindestlohn

"Wir drehen jeden Cent um"

Während Politiker über Mindestlöhne streiten, müssen viele Menschen überlegen, wie sie ihr Mittagessen bezahlen können - obwohl sie Vollzeit arbeiten. Sechs Betroffene berichten.

Protokolle: Julius Müller-Meiningen

Andrea Maliqi, 33, Angestellte in einem Gartencenter, Bayern:

"Ich bin eine Verkäuferin mit Leidenschaft, dieser Beruf macht mir Spaß. Ich war früher selbständig, aber nach meiner Scheidung war ich auf eine neue Arbeit angewiesen. Im Gartencenter habe ich 520 Euro netto im Monat verdient. Das waren fünf Euro Stundenlohn brutto bei 130 Arbeitsstunden pro Monat. Meine Chefs wollten, dass ich 100 Überstunden mache.
 
Ich habe gesagt: Nein, umsonst arbeite ich nicht. Ich wurde ausgenutzt. Mit 300 Euro Unterstützung vom Arbeitsamt, etwas Kindergeld und Unterhalt vom Jugendamt für meine Tochter musste ich über die Runden kommen. Der Vater meiner Tochter zahlt keinen Unterhalt. Ich habe zeitweise kaum gegessen, bin zur Essensausgabe der Straubinger Tafel gegangen. Einmal ging das Auto kaputt, ein anderes Mal der Boiler - wie sollte ich das bezahlen? Ich konnte nicht mehr. Von so einem Stundenlohn kann man kaum leben. Nun lasse ich mich zur Löterin umschulen. Zum Glück gibt es meinen Freund, der mich unterstützt."

Karl Heinz Schweitzer, 47, Lkw-Fahrer aus Pirmasens, Rheinland-Pfalz:

"Ich bin nun 31 Jahre in diesem Beruf. Die Löhne bei uns sind teilweise unter Hartz-IV-Niveau. Unser Stundenlohn liegt zwischen 4,91 und 5,65 Euro. 240 bis 320 Stunden Arbeit im Monat gelten als normal. Die Tarife lauten aber ganz anders. Leider sind die meisten Transportunternehmer nicht tarifgebunden. Im Osten fahren Leute für 1080 Euro brutto im Monat. Ich habe Glück bei meinem Unternehmen, ich habe am Ende des Monats 1450 Euro netto. Ich habe aber schon viele Frösche küssen müssen, um den Prinzen zu finden. Im Großen und Ganzen ist die Situation untragbar. Wir sind europaweit unterwegs. Mit Glück bin ich freitagabends zu Hause bei meiner kranken Frau und meinen zwei Kindern. Wir drehen jeden Cent dreimal um. Gibt es diese Woche Fleisch? Lieber Dosensuppe, damit wir den Kindern die Fahrt mit der Schule ins Ferienheim bezahlen können. Klamotten werden getragen, bis sie auseinanderfallen. Am Sonntagabend geht die Reise wieder los. Ich lebe die Woche über auf zwei Quadratmetern im Lkw und koche mit einem Gaskocher, weil Raststätten so teuer geworden sind. Es ist ein ständiger Kampf."

Paul Janßen (Name geändert), 37, Hilfskraft bei Obi aus Nordrhein-Westfalen:

"Dafür, dass ich nach Geschäftsschluss die Regale einer Obi-Filiale wieder auffülle, bekomme ich einen Stundenlohn von 5,25 Euro. Es ist extrem hart, wie in diesem Unternehmen mit Menschen umgegangen wird. Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben. Es ist vorgekommen, dass einer von uns einen teuren Artikel aus Versehen beschädigt hat. Ihm wurde sofort gekündigt. Wir werden getrieben und gehetzt, ob wir nun in einer Stunde Zement oder Lichtschalter zu verräumen haben. Ich arbeite vier Tage in der Woche und komme auf 260 Euro im Monat. Manchmal arbeite ich bis Mitternacht. Es ist nur eine Aushilfsstelle, denn untertags habe ich eine andere Stelle. Ich hatte mir vor ein paar Jahren mit meiner Frau ein Haus als Altersvorsorge gekauft, jetzt ist das Geld knapp geworden, und wir haben Mühe, die teure Stromrechnung zu bezahlen. Die Banken geben uns keinen Kredit mehr. Wir kommen zwar über die Runden. Aber Urlaub ist nicht mehr drin."

Tina Braun (Name geändert), 29, Floristin aus Neubrandenburg:

"Ich arbeite seit neun Jahren als Floristin in Neubrandenburg. Bei meiner ersten Stelle wurde mir gekündigt, dann habe ich eine neue Stelle gefunden, wurde schwanger und dann wieder entlassen. Mein Sohn ist jetzt sechs. Uns reicht das Geld hinten und vorne nicht. Mein Lebensgefährte ist arbeitslos und bekommt Hartz IV, ich bekomme einen tariflich festgelegten Stundenlohn von 6,47 Euro, im Monat komme ich auf knapp 900 Euro bei 40 Stunden pro Woche und sechs Arbeitstagen. Wir wohnen in einem Dorf bei Neubrandenburg, deshalb brauche ich dringend ein Auto. Das kostet 200 Euro Benzin im Monat. Im Urlaub geht es mit dem Wochenendticket und meiner Familie zu den Verwandten. Mein Beruf macht mir zu viel Spaß, als dass ich ihn wechseln würde. Es stimmt eigentlich alles, nur reicht das Geld oft nicht. Dann muss ich meine Omi anpumpen. Sie leiht mir schon mal 50 Euro, die bekommt sie dann in Raten zurück."

Wiebke Kortmeier, 23, Friseurin aus Lemgo in Nordrhein-Westfalen:

"Von den 1200 Euro, die ich brutto im Monat verdiene, bleiben mir 900 Euro. Ich wusste, dass meine Arbeit schlecht bezahlt ist, obwohl ich schon im dritten Berufsjahr bin. Zum Glück macht mir die Arbeit Spaß. Vor allem, dass ich viel mit Menschen umgehen kann. Aber mit meinem Verdienst ist das Auskommen wirklich schwierig. Nach allen Abgaben wie den Kosten für Miete, Auto und Versicherung bleiben mir noch 200 Euro zum Leben. Manchmal kommt etwas Trinkgeld der Kunden dazu. Meine Eltern zahlen mir die Hausratversicherung, gelegentlich esse ich bei ihnen. Weggehen ist nicht. Am Monatsende stehe ich bei plus/minus null da, eher minus. Wenn ich in der Früh aufwache, freue ich mich auf die Arbeit. Aber wenn Rechnungen kommen, wird mir oft ganz anders."

Nadine Busch (Name geändert), 36, Bürokraft aus Nordrhein-Westfalen:

"Ich habe zwei Kinder und habe mich lange auf verschiedene Stellen beworben. Es hagelte Absagen, deshalb musste ich das Angebot von Edeka annehmen. Dort arbeite ich durchschnittlich 40 Stunden im Monat und bekomme einen Stundenlohn von 6,30 Euro. Ohne meine Eltern und die Schwiegereltern ginge gar nichts, denn sie kümmern sich um die beiden Kinder, wenn ich arbeite. Mit zwei Kindern müssen Sie nehmen, was Sie kriegen, denn Kinder sind im Lebenslauf ein Manko. Ich bekomme kein Geld, wenn ich krank bin, Weihnachtsgeld gibt’s nicht. Mein Mann ist Kraftfahrer und verdient nur ausreichend, weil er so viele Stunden macht. Durchschnittlich 240 im Monat. Wir haben zu viert 1900 Euro netto zur Verfügung. Im Urlaub waren wir seit fünf Jahren nicht mehr. Für die Arbeit brauchen wir zwei Autos, Benzin ist teuer. Mein Mann hat zu rauchen aufgehört, ich gehe seltener zum Friseur, seltener ins Kino. Auswärts essen ist nicht mehr drin."

 (SZ vom 04.01.2008/woja/mah)