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FR vom 13.02.2007 (gescannter Bericht)
Markt, Markt und nochmals Markt
Die Gottheit bei guter Verfassung halten: Der Neoliberalismus nimmt
mehr und mehr Züge an, die schon Ludwig Feuerbach als Basis von
Religion charakterisierte
VON JENS GRANDT
Seit der österreichische Philosoph Eric Voegelin den Begriff
„politische Religion" geprägt hat (1938), um Erscheinungen
profaner Glaubensmanifestation zu charakterisieren, werden Ideologien
und politische Systeme daraufhin untersucht, inwieweit sie „das
Göttliche in Teilinhalten der Welt" verkörpern. Wenig
später, 1944, hat der französische Soziologe Raymond Aron
dafür den Terminus „säkulare Religion" eingeführt; er
bezeichnet so „jene Doktrinen, die in den Herzen der Zeitgenossen den
Platz des geschwundenen göttlichen Glaubens einnehmen".
Bevorzugte Demonstrationsmuster für säkulare Gläubigkeit
waren Nationalismus und Nationalsozialismus, orthodoxer Kommunismus,
verschiedene Formen des Personenkultes, aber auch Fortschrittsglaube,
Geldfetischismus und die Heiligsprechung der Arbeit als solcher, wie
sie der englische Philosoph und Historiker Charles Carlyle anempfohlen
und später in verschiedene (konträre) Utopien vom „Neuen
Menschen" Eingang gefunden hat.
Ökonomische Phänomene und sie begleitende Theorien sind
bisher vergleichsweise selten unter religionswissenschaftlichen
Gesichtspunkten betrachtet worden. In der kleinen, unvollendet
gebliebenen Arbeit „Kapitalismus als Religion" hat Walter Benjamin 1921
den modernen Kapitalismus als eine Gesellschaft der gläubigen
Aufopferung charakterisiert - als eine „religiöse Bewegung", die
keinen Tag verstreichen lasse, an dem sie nicht „allen sakralen Pomp"
entfalte, um ihn zum „Festtag in dem fürchterlichen Sinne" zu
machen, der die „äußerste Anspannung des Verehrenden"
verlangt. Die religiöse Struktur des Kapitalismus nicht nur als
eine durch den Pietismus begünstigte, ihm quasi entwachsene
Gesellschaftsform zu verstehen, wie Max Weber, sondern als „essentiell
religiöse Erscheinung", wagte Benjamin noch nicht, weil er
befürchtete, in eine „maßlose Universalpolemik" zu verfallen.
Benjamins Ansatz ist unbefriedigend, weil er in der metaphorischen
Deutung stecken bleibt. Er bezieht den Begriff Religion auf die
Ganzheit einer Gesellschaftsformation, also generell auf Leben und
Verhaltensweisen der Menschen einer Epoche. Beim Neoliberalismus liegen
die Dinge anders. Mit diesem Namen verbinden wir Vorstellungen nicht
der Gemeinsamkeiten einer historisch gewachsenen marktwirtschaftlichen
Produktionsweise, sondern eine bestimmte Form oder Gestalt „des
Kapitalismus".
Der Neoliberalismus aktiviert Theorien, die ihren Ursprung im
bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus des späten 18. und
frühen 19. Jahrhunderts haben. Die Maxime des Klassikers der
liberalen Ökonomie, Adam Smith, „Laissez faire, laissez aller!"
wird zwar in der Form gemieden, aber die Illusion vom „freien Spiel der
Kräfte", das den sozialen Ausgleich wie durch eine „unsichtbare
Hand" von selbst regele, wird übernommen.
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Lehrsätze des Neoliberalismus
werden gebetsmühlenartig wiederholt.
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Die Enthaltsamkeit des Staates gehörte zum Credo der neuzeitlichen
Begründer des Liberalismus, Friedrich von Hayek und Milton
Friedman, wobei von Hayek so weit ging, jede staatliche Regulierung als
sozialistische Unterwanderung zu diffamieren. Der Neoliberalismus ist
also eine spezielle, von bestimmten Personen zu einer bestimmten Zeit
propagierte Wirtschaftstheorie. Insofern ist eine Voraussetzung
für religiöses Denken gegeben, die der große
Religionstheoretiker und -kritiker Ludwig Feuerbach als „Basis des
Glaubens" bezeichnet hat: die Differenz zwischen der allgemeinen oder
„natürlichen Vernunft" und einer besonderen, durch „besondere
Wahrheiten, Privilegien und Extemtionen" (Befreiung von allgemeinen
Pflichten) herausgehobenen Vernunft.
Der fundamentale Bezugspunkt jedes religiösen Systems ist
Feuerbach zufolge ein absoluter Gedanke (der Gott heißen kann,
allumfassende Idee oder wie bei Hegel höchste Vernunft). Daraus
leiten sich weitere genuin religiöse Besonderheiten ab: der
Anspruch, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, Intoleranz und
Messianismus, Dogmatismus, Hörigkeit verbunden mit einer
Heilserwartung, die „schroffe Abgrenzung von Out-Groups analog zur
Scheidung der Christen von den Heiden" (Hans-Ulrich Welüer).
Feuerbachs Überlegungen sind in die „Dimensionen des
Religiösen" eingeflossen, wie sie von den amerikanischen
Religionssoziologen Charles Glock und Rodney Stark 1965 in Religion and
Society in Tension formuliert und von vielen jüngeren Autoren wie
Francois Bedarida, Jacques Derrida, Rene Remond, Hans-Ulrich Wehler
oder Hartmut Lehmann aufgegriffen worden sind. Legen wir sie einer
kritischen Betrachtung der gegenwärtig dominierenden
Wirtschaftstheorie zugrunde, kommen wir zu dem Ergebnis, dass der
Neoliberalismus erstaunlich präzise die Gestalt eines
Glaubensystems angenommen hat.
Schon im Gründungsdokument der ersten internationalen Vereinigung
neoliberaler Ökonomen, der Mont-Pelerin-Gesellschaft (1947), ist
von „einem schwindenden Glauben (!) an das Privateigentum und an
Wettbewerbsmärkte" die Rede, der wiederherzustellen sei. Der freie
Markt war für ' Friedrich von Hayek das höchste und letzte
Prinzip der gesellschaftlichen Evolution, die höchste
Autorität, von der alle Parameter des Handelns abzuleiten seien -
auch die Legitimation des Staates, die nicht vom Volkssouverän,
sondern vom Erfolg der Wirtschaft ausgeht.
Das Absolute der neoliberalen Schule ist der „freie Markt". In der
Praxis des Shareholder-Kapitalismus entäußert sich die allen
gesellschaftlichen Bedingtheiten übergeordnete Markt-Instanz in
der Absolutheit des Gewinns. Dem Bekenntnis zu dessen Absolutheit hat
der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in
München, Hans-Werner Sinn, mit dem Deutschland rettenden Ruf
„Markt, Markt und nochmals Markt!" beredten Ausdruck verschafft. Wenn
der Arbeitsmarkt den „reinen Marktgesetzen" unterworfen wäre,
brauchte es keine Arbeitslosigkeit zu geben, wären
Kündigungsschutz, Tarifverträge, Sozialunion
europäischer Länder und übrigens auch Gewerkschaften
überflüssig.
Smith Annahme von der Selbstregulation des Marktes, der alle
gesellschaftlichen Probleme löse, wenn man das Kapital
gewähren lässt, ist ideologisch und daher für
religiöse Implikationen besonders anfällig. Schon Alexander
Rüstow (1885-1963), einer der Geburtshelfer des Ordoliberalismus,
hatte Smith' „unsichtbare Hand" mit einer „quasi-religiösen
Befangenheit" in der Tradition des Spinozismus erklärt, wonach
alles auf der Erde gottgelenkt sei, demzufolge jede menschliche
„Regulierung" schädlich.
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DER AUTOR
• Jens Grandt ist freier Publizist
und Autor des Buches „Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens", das
vor kurzem im Vertag Westfälisches Dampfboot erschienen ist.
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Der Markt des Adam Smith und von Hayek setzt voraus, dass alle
Kapitaleigner zum Wohlergehen der Gemeinschaft investieren und für
Beschäftigung sorgen; es ist ein utopischer Markt.
Trotzdem wurde und wird die Theorie der „vollkommenen Märkte" von
der Main-stream-Ökonomie als Garant für Wachstum und soziale
Sicherheit betrachtet. „Diese Hoffnung gründet sich eher auf
Glauben - besonders bei denjenigen, die davon profitieren - als auf
Wissenschaft", meinte dazu Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E.
Stiglitz. Philippe Burrin und andere haben nachgewiesen, dass sich
säkulare Religionen fast immer mit einem Mantel
pseudowissenschaftlicher Lehren umgeben (Rassentheorie des
Nationalsozialismus, „wissenschaftlicher" Kommunismus), die als
unbezweifelbare, letztgültige Gewissheit verkündet werden.
Erinnern wir uns an die stereotypen Beschwörungen der
„Wirtschaftsweisen" und der die Theorien umsetzenden Politiker: Es gibt
keine Alternative. Auch hier eine vergleichbare Konstellation: Die
Behauptung absoluter, theologisch gesprochen, „göttlicher"
Wahrheiten kennzeichnet jeden konfessionellen Glauben.
Lehre und Lehrsätze des Neoliberalismus sind zu Dogmen erstarrt,
die „gebetsmühlenartig" wiederholt und zu Mythen stilisiert
werden. Welche Bedeutung der Dogmatik in theologischen Systemen
zukommt, ist bekannt.
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Von der Selbst regulation des Marktes
geht eine Heilserwartung aus.
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Bezüglich weltlicher Glaubensgebilde war Georg Simmel der Meinung,
für alle „schwach oder gar nicht religiösen Menschen" sei
„das Dogma die einzige Möglichkeit einer irgendwie religiösen
Existenz". (Das beste Beispiel hierfür bietet der orthodoxe
Marxismus-Leninismus.) Um nur einige kanonische Floskeln zu nennen, die
ihren Ursprung in den Think Tanks der Neoliberalen haben: Wenn es den
Unternehmen gut geht, geht es der Gesellschaft gut. Lohnkosten
müssen gesenkt werden, um Arbeitsplätze zu schaffen. Die
Arbeitszeit ist zu verlängern, damit durch mehr Produkte die
Kaufkraft gefördert wird. Strengstes Sparen konsolidiert den
Staatshaushalt.
Prüfstein der Lehre ist aber die Praxis. Seit Ende der siebziger
Jahre hat die politische Elite gemäß den Ratschlägen
der neoliberalen Theoretiker regiert. Keines der Ziele wurde erreicht.
Statt die Arbeitslosigkeit zu senken, hat sie sich in Deutschland
über die Jahre auf einem Stand zwischen vier und fünf
Millionen eingepegelt. Trotz der Sparorgien hat die Staatsverschuldung
in dem betrachteten Zeitraum zugenommen. Die Sozialsysteme sind labil.
Das Ziel des Lissabon-Gipfels, Europa zur führenden
Wirtschaftsmacht zu entwickeln, ist in weite Ferne gerückt. Dessen
ungeachtet wurde dreißig Jahre lang an den neoliberalen Doktrinen
festgehalten. Doch sie halten keiner ernsthaften ökonomischen
Prüfung stand, sondern beruhen auf einem Wunschdenken, das
Feuerbach zufolge das „Grundwesen und Prinzip der Religion" ausmacht.
Man kann noch viele weitere religiöse „Dimensionen" des
Neoliberalismus finden: Vom Markt mit seinen angeblichen
Selbstregulierungskräften geht eine Heilserwartung bzw. ein
Heilsversprechen aus - das sich erfüllt, wenn die Gemeinschaft
Opfer erbringt, um die Gottheit Markt in guter Verfassung zu halten.
Verfehlungen müssen gesühnt werden: Die Deutschen haben
gesündigt, weil sie „über ihre Verhältnisse gelebt"
haben; jetzt müssen sie durch ein Tal der Tränen, an dessen
Ende Wohlstand, Arbeit und Glück winken. Wer Alternativen
vertritt, wie etwa Oskar Lafontaine, wird als Häretiker aus der
community ausgegrenzt. Die neoliberale Lehre hat sich des Staates
bemächtigt und ist zur Staatsreligion geworden. Dem steht das
Paradox nicht entgegen, dass auch ein Teil des Staates geopfert werden
soll, nämlich dessen sozial regulierende Funktion,
Auf die „Systeme der politischen Ökonomie" bezogen, die Schumpeter
zufolge von der sachgerechten Ökonomischen Analyse zu
unterscheiden sind, könnten wir von einem Wirtschaftsglauben oder
in Anlehnung an den Begriff „politische Religion" von
„ökonomistischer Religion" sprechen. Alle Feuerbachschen
Wesensbestimmungen von Religion treffen auf den Neoliberalismus zu. Mit
einer Ausnahme: der emphatischen Gefühlsschwelgerei. Aber auch
diese Lücke sucht die Politik, beginnend mit der
Patriotismusdiskussion 2004 und der Kampagne „Du bist Deutschland"
eifrig zu schließen.