Kommentar Globalisierung
Die Angst der Mittelschicht
VON MARKUS SIEVERS
Die Furcht vor der Globalisierung geht um. Es ist eine neue Angst,
nicht zu verwechseln mit den Nöten und Sorgen der Mittel- und
Arbeitslosen, der Ausgegrenzten und der Unzähligen, die den
Absturz vor Augen haben. Die neue Bange treibt die politische Klasse
um, die an den Hebeln der Macht sitzt. Sie beunruhigt, was in den
Köpfen der normalen Menschen vorgeht, wenn die Gewinne explodieren
und die Löhne schrumpfen, wenn Manager kein Maß kennen und
soziale Netze keinen Halt bieten. Auf Dauer werden die Massen eine
Globalisierung, die spaltet und auseinandertreibt, nicht hinnehmen -
diese Erkenntnis löst in den oberen Etagen Alarm aus.
Diese Kapitalismuskritik hat Gewicht, weil sie nicht von den
üblich Verdächtigten kommt, sondern vom Establishment.
Deutlicher als seine Amtsvorgänger es jemals gewagt hätten,
mahnt US-Notenbankchef Ben Bernanke eine gerechtere Verteilung des
Wohlstands in seinem Land an. Vor wenigen Tagen griffen die
Finanzminister der Euro-Länder die Verteilungdebatte auf und
warnten vor den Gefahren durch die zunehmenden Gegensätze zwischen
Arm und Reich. Auch Bundespräsident Horst Köhler stimmt in
diesen Chor ein. Ein "politisch-moralisches Problem" prangert das
Staatsoberhaupt an, weil Spitzenmanager abkassieren, während sie
die Belegschaften auspressen.
Diese Warnungen kommen in Zeiten, in denen der Kapitalismus ein
rauschendes Fest feiert. Seit er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
und der Öffnung von China und Indien bis auf kleine
Widerstandsnester den ganzen Erdball überzogen hat, demonstriert
er auf beeindruckende Weise seine Leistungsfähigkeit. Die
Weltwirtschaft wächst so schnell wie seit Jahrzehnten nicht. Der
grenzenlose Austausch von Waren und Dienstleistungen, von Ideen und
Erfindungen beschert der Menschheit einen Wohlstand in nie gekanntem
Ausmaß. Und doch droht dieses Fest aus dem Ruder zu laufen.
Niemand erwartet, dass die wirklich Armen in den Elendsregionen
Südamerikas, Afrikas oder Asiens den Aufstand proben könnten.
Nicht von den Slums geht im 21. Jahrhundert die Unruhe aus, sondern von
den Vorgärten in den Wohlstandsregionen. Hier lebt die globale
Mittelschicht, hier bangt das internationale Prekariat um
Arbeitsplätze, Häuschen und Rente. Das ist der Stahlarbeiter
in den USA, der im Wirtschaftsboom seine gut bezahlte Stelle gegen Jobs
für ein paar Dollar die Stunde tauschen muss. Das ist der
Buchhalter in Osaka oder die Sekretärin in Sapporo, die von der
Sicherheit träumen, die für ihre Eltern
selbstverständlich war. Und das ist der Ingenieur in Sindelfingen,
der auf Hartz-IV-Niveau fällt, wenn er arbeitslos wird oder der
Koch in Berlin, der von seinem Beruf nicht auskömmlich leben kann.
Überall in den wohlhabenden Ländern fällt vom Reichtum
auf die Lohnempfänger immer weniger ab. Innerhalb von drei
Jahrzehnten mehrte das oberste Zehntel in den USA seinen Reichtum um
ein Drittel, während die Mittelschicht gerade ein Zehntel dazu
gewann. Der kräftige Aufschwung ist fast komplett an den
Arbeitnehmern in den Vereinigten Staaten vorbeigegangen.
Unter immer stärkeren Druck stehen in den USA, in Europa und Japan
die Leute, die ihre Gesellschaften tragen und prägen. Wenn sich
diese Menschen frustriert abwenden, wenn sie vergrämt über
die sich öffnende Schere ihrer Verantwortung entsagen, wird es
nicht nur schwer, Mehrheiten für den Freihandel zu organisieren
und einen Rückfall in Kleinstaaterei abzuwenden. Dann sind die
Demokratien in ihrem Kern bedroht.
Zu Recht machen Bernanke und Co klar, dass Verteilungsgerechtigkeit
kein Thema des 20. Jahrhunderts ist. Die Globalisierung verschärft
die Gegensätze. Sie verlangt folglich nicht weniger Umverteilung,
sondern mehr sozialen Ausgleich. Es ist ein erster Schritt und ein
Zeichen für eine sich ändernde Einstellung, dass
führende Politiker dies laut aussprechen.
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Copyright © FR online 2007
Dokument erstellt am 04.03.2007 um 17:36:01 Uhr
Letzte Änderung am 04.03.2007 um 18:16:17 Uhr
Erscheinungsdatum 05.03.2007