Aus "Erziehung und Wissenschaft" , Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW 4/2001
Nachdenken über die Zukunft
Die Gewerkschaften, ein auslaufendes Modell ?
Die Gewerkschaften werden nur dann eine Zukunft haben, wenn sie wieder identifizierbar werden als gesellschaftspolitische Opposition und selbstbewußte Verfechter eines sozialstaatlichen Gesellschaftsmodells, meint der Paderborner Soziologieprofessor Arno Klönne.
Können wir sicher sein, dass die gewerkschaftliche Form der Interessenvertretung den gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel übersteht?
Zweckoptimismus hilft da nicht weiter. Es gibt keine Bestandsgarantie der Geschichte für die Gewerkschaften als Kontrahenten und/oder Partner kapitalistischer Unternehmen. Der Blick in andere Länder zeigt, dass auch die „gewerkschaftsfreie" Machtverteilung im Kapitalismus denkbar ist. Im internationalen Vergleich stehen die deutschen Gewerkschaften derzeit, was ihren Einfluss auf Arbeits- und Sozialpolitik angeht, recht günstig da - noch. Der Trend geht auch hierzulande dahin, dass gewerkschaftliche Eingriffsfähigkeit in immer mehr Bereichen der Wirtschafts- und Arbeitswelt nicht mehr so recht zu spüren ist.
Bedeutungsverlust
Im sozialwissenschaftlichen Diskurs ist es weithin üblich, den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften auf die zunehmende „Individualisierung" in Bewusstsein und Verhalten von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zurückzuführen. Sehr überzeugend ist diese Erklärung nicht. Erkenntnissen der seriösen Meinungsforschung lässt sich entnehmen: Das „Prinzip Gewerkschaft", nämlich: „Nur gemeinsam sind wir (Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) stark", hat an Akzeptanz nicht verloren, auch nicht bei der nachwachsenden Generation.
Aber es hat sich die Ungewissheit über die Funktionstüchtigkeit der Gewerkschaften ausgebreitet: Was wollen und können diese in der Auseinandersetzung mit welchen anderen gesellschaftlichen Kräften und mit welchen Methoden erreichen?
Eine derart begründete Skepsis oder Distanz gegenüber der Sinnhaftigkeit gewerkschaftlicher Organisierung und Aktivität findet sich naheliegenderweise vor allem bei den sozialen Gruppen, die nicht durch Traditionen an die Gewerkschaften gebunden sind, also bei Beschäftigten in der „neuen Ökonomie", bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abseits des "Normalarbeitsverhältnisses" (das längst nicht mehr „normal" ist), bei weiblichen Beschäftigten und bei jungen Leuten.
Sicherlich ist es auch der altbackene Organisationsstil der Gewerkschaften, der den Zugang zu jüngeren und neuen Gruppen der Arbeitnehmerschaft erschwert, aber mehr noch sind es die ungelösten inhaltlichen Fragen gewerkschaftlicher Politik, die Zweifel an der Zukunft dieser Organisationen aufkommen lassen.
Umstürze
Um die gewichtigsten Defizite kurz zu skizzieren: Kennzeichnend für die deutsche und die nach 1945 westdeutsche Variante des Kapitalismus war die sozialstaatliche Bändigung, also ein hoher Grad von sozialer Sicherung und sozialem Ausgleich. Die Organisationsstärke der deutschen Arbeiterbewegung hat historisch diese sozialstaatliche Prägung mit zustande gebracht; zugleich gab (und gibt es immer noch) der Sozialstaat den Gewerkschaften Mitbestimmungsrechte, auf die sie sich institutionell stützen können.
Seit einigen Jahren ist diese überkommene Sozialverfassung der Bundesrepublik einem Umsturz ausgesetzt, bei dem die rot-grüne Bundesregierung Regie führt und Legitimationen liefert. Die Gewerkschaften sind zwar im Detail darum bemüht, den Abbau sozialer Sicherung in Grenzen zu halten und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerschaft zu bewahren, sie haben aber darauf verzichtet, den Wechsel des gesellschaftlichen Systems, der sich da vollzieht, zum grundsätzlichen öffentlichen Konflikt zu machen. Rücksichtnahme auf eine regierende Sozialdemokratie spielt dabei ebenso mit wie Hilflosigkeit gegenüber dem Totalitätsanspruch der neoliberalen Ideologie.
In der Konsequenz bedeutet dies: Als selbstbewusste Verfechter eines (sehr erfolgreichen und wirtschaftlich überhaupt nicht riskanten) sozialstaatlichen Gesellschaftsmodells sind die Gewerkschaften nicht mehr identifizierbar, und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden das Gefühl haben, für die Entscheidungen über die gesellschaftliche Zukunft sei gewerkschaftliche Politik ziemlich belanglos.
Gleichmut
Ein Umsturz vollzieht sich in der deutschen Gesellschaft noch in einer weiteren Systemfrage. Bisher stand neben dem Sektor der kapitalistischen Unternehmenswirtschaft und dem der kleingewerblich-handwerklichen oder bäuerlichen Familienwirtschaft ein dritter, für das Sozialprodukt höchst bedeutsamer Wirtschaftssektor, in dem Rentabilität und Gemeinwohlverpflichtung ausbalanciert werden mussten oder wo auf Kosten der öffentlichen Hand Leistungen für alle Bürgerinnen und Bürger erbracht wurden: der weit verzweigte und stark differenzierte Bereich öffentlicher Dienstleistungen und Betriebe sowie ähnlicher Einrichtungen von Kirchen, sozialen Verbänden etc.
Dieser Sektor wird Zug um Zug „privatisiert", was bedeutet: Er wird soweit wie nur möglich auf kapitalistische Unternehmensstrukturen umgestellt und dem Prinzip maximaler Kapitalverwerfung unterworfen, was keineswegs ausschließt, dass die Verlustseite „privatisierter" Dienstleistungen und Betriebe auch weiterhin „sozialisiert", also den steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürgern angelastet wird.
Für die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik bringt zumindest län-gerfristig die „Privatisierung" bisher öffentlicher Dienstleistungen und Betriebe eine tiefgreifende Veränderung der Lebensbedingungen mit sich. Die soziale Polarisierung in der deutschen Gesellschaft wird damit systematisch verschärft.
Es liegt auf der Hand, dass die soziale Lage von Menschen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, nicht nur vom Arbeitsmarkt und dem Lohnoder Gehaltsniveau, sondern auch von der mehr oder weniger günstigen Infrastruktur (Verkehrswesen, Energieversorgung, Kommunikation, Gesundheitsdienste, Bildungswesen) abhängig ist.
Deshalb hätte man erwarten können, dass die Gewerkschaften die Abschaffung des öffentlichen, gemeinwohlori-entierten Wirtschaftssektors zu ihrem Konfliktthema machen würden. Aber auch hier sind sie passiv geblieben; auch in dieser Arena des Streites um die Zukunftsgesellschaft ist eine gewerkschaftliche Parteinahme nicht identifizierbar.
Das mit den Leitbegriffen Demokratie und Sozialstaat bezeichnete Gesellschaftsmodell hatte bisher eine substanzielle Grundlage in der öffentlichen, nichtkapitalisierten Bereitstellung von Bildungschancen. Die in Schule und Hochschule oder über Institutionen der Weiterbildung erworbenen Qualifikationen sind, soweit die materielle Existenz von Bürgerinnen und Bürgern vom Verkauf der Arbeitskraft abhängig ist, mitentscheidend für die Chancen im Arbeitsmarkt. Angesichts dessen ist die Entwicklung des Bildungswesens, gerade im Hinblick auf die künftige Arbeitsgesellschaft als Wissens- und Informationsgesellschaft, als eines der zentralen Handlungsfelder von Gewerkschaften anzusehen.
Konfliktscheu
Umso erstaunlicher ist der Gleichmut, mit dem die deutschen Gewerkschaften - vom „Fach''-Verband GEW abgesehen - dem „Privatisierungs''-Trend in Schule und Hochschule und im Bereich der Weiterbildung gegenüberstehen. Es hat den Anschein, dass sie erst gar nicht versuchen, in dieser Frage Interessen der Arbeitnehmerschaft entscheidend zu formulieren und den Konflikt mit den vorgeblichen Modernisierern zu riskieren.
Wollen die Gewerkschaftsvorstände die Einflussnahme auf die Zukunft des Bildungswesens der Bertelsmann-Stiftung überlassen?
Und weshalb sollten sich dann junge Leute, die neue Benachteiligungen in der Bildungspolitik auf sich zukommen sehen, für die Gewerkschaften als „ihre" Organisationen interessieren?
Die derzeit modische Annahme, in Gesellschaften wie der Bundesrepublik sei das Ende der Geschichte sozialer Konflikte und Bewegungen erreicht und in Zukunft werde der „Markt" (inwieweit gibt es ihn überhaupt?) alle Probleme lösen, hat nichts Realistisches. Es wird neue Auseinandersetzungen um die soziale Gestalt der Gesellschaft geben, nicht nur rationale übrigens.
Die Gewerkschaften sind geschichtlich groß geworden, indem sie sich nicht auf das Aushandeln von Lohn und Arbeitsbedingungen beschränkten, sondern als gesellschaftspolitischer Verband auftraten. Revolution haben sie nie gemacht, aber dafür gesorgt, dass im wirtschaftlichen und sozialen Leben das Kapitalinteresse nicht zur Alleinherrschaft kommen konnte.
Ich vermute, dass die Gewerkschaften nur dann eine Zukunft haben, wenn sie sich auf die Nähe zu neu auftretenden sozialen Konflikten und sozialen Bewegungen einlassen und wieder identifizierbar werden als gesellschaftspolitische Opposition zum Totalitätsanspruch jener Wirtschaftsweise, die Macht mit dem Etikett „Markt" verhüllt.
Amo Klönne