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Pfade in die Zukunft erkunden

Die Grünen müssen ihr Profil schärfen und ihr Grundsatzprogramm weiterentwickeln / Thesen von Claudia Roth und Reinhard Bütikofer

Die Grüne Zukunftsdebatte richtet unseren Blick nach vorne. In Anbetracht drängender Herausforderungen wollen wir Grüne uns in der Öffentlichkeit über die tatsächliche Lage und unsere Strategie verständigen. Über politische Prioritäten und über gesellschaftliche Bündnispolitik. Über die Anziehungskraft unserer gesellschaftlichen Ziele. Über den Spannungsbogen zwischen den nächsten Schritten und den weiter reichenden Visionen. (…)

Die Welt verändert sich rasant. Die Probleme von Umwelt und Klimaschutz bilden einen globalen Zusammenhang ebenso wie die Verflechtungen der Weltwirtschaft und die Fragen internationaler Sicherheit. Die Forderungen nach Menschenrechten und Demokratie, nach Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit werden von einer breiten Weltöffentlichkeit gestellt. Neu aufstrebende Länder wie China, Indien oder Brasilien verschieben die Gewichte der Weltpolitik. Europa, über seine notwendige Integration noch uneins, sieht sich gleichzeitig zu mehr internationaler Verantwortung herausgefordert. (…)

Es geht darum, das Profil der Grünen zu schärfen: als Seismograf gesellschaftlicher Probleme, als Erneuerer, die Pfade in die Zukunft erkunden und als Partei zukunftsorientierter Reformen. Dies wird uns gelingen, wenn wir nicht im eigenen Saft schmoren, sondern die Diskussion mit anderen Akteuren aus Theorie und Praxis suchen. Auf der Basis unserer Grundwerte kommt es darauf an, genauer zu beschreiben, welche institutionellen Konsequenzen unser Anspruch auf Selbstbestimmung, soziale Teilhabe und Anerkennung solidarische und ökologische Modernisierung hat. Wie muss ein Staat beschaffen sein, der gesellschaftliche Teilhabe und Chancengerechtigkeit gewährleistet? Welchen ordnungspolitischen Rahmen braucht eine nachhaltige Ökonomie? Wie kann angesichts der Globalisierung und der Übertragung von Kompetenzen an die Europäische Union die demokratische Willensbildung über unser gesellschaftliches Zusammenleben im Großen wie im Kleinen gestärkt werden? (…)

Die Wiederentdeckung öffentlicher Institutionen ist eine Voraussetzung für eine Stärkung des Politischen in unserer Gesellschaft. Anstatt Probleme zu privatisieren und den Druck auf die Einzelnen zu erhöhen, eröffnen wir so einen öffentlichen Raum gesellschaftlicher Verständigung und politischer Gestaltung. Das bedeutet nicht die Rückkehr zur Vorstellung staatlicher Allzuständigkeit. Vielmehr geht es um die Bedeutung öffentlicher Institutionen für die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Bürger. Wir wollen einen ermutigenden Sozialstaat, der die Individuen stärkt. (…)

Gerechtigkeit, soziale Teilhabe und Arbeit der Zukunft

Die Stabilität des Sozialstaats schwindet. Er ist wirtschaftlich mächtig unter Druck geraten. Der soziale Zusammenhalt ist in Frage gestellt und kann ohne Reformen nicht gesichert werden. Erfolgreich werden nur solche Reformen sein, die soziale Teilhabe fördern und nicht Ausgrenzung. (…) Wir geben den Anspruch nicht auf, dass alle Erwachsenen die Chance haben müssen, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu bestreiten. Aber wir brauchen neue Kombinationsmöglichkeiten von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Tätigkeit im Non-Profit-Bereich und ehrenamtlichem Engagement. (…) Eine weitere Privatisierung dieser Probleme kann nicht die Lösung sein.

Wir benötigen auch eine Wiederbelebung der Debatte um öffentliche Güter und die Finanzierungsgrundlagen eines handlungsfähigen Staates. An welcher Leitvorstellung des Sozialstaates orientieren wir uns? Es spricht viel dafür, sich stärker skandinavische Erfahrungen zum Vorbild zu nehmen, statt abzuwarten, bis unser überkommenes kontinentaleuropäisches Modell an seinen Ungerechtigkeiten wie an seinen Ineffizienzen scheitert und auf einen Schrumpfsozialstaat eingedampft wird. Welche steuer- und verteilungspolitischen Konsequenzen hat unser Anspruch auf soziale Teilhabe aller? Gerade ein moderner, erweiterter Gerechtigkeitsbegriff ignoriert nicht die "Verteilungsfrage". (…)

Es bedarf dafür einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen mittels Steuern und Abgaben. Aber auch die Einbeziehung der primären Verteilung gesellschaftlicher Güter in die Gerechtigkeits-Debatte ist überfällig. Ohne ökonomische Partizipation ist die soziale Teilhabe aller nicht möglich. Das Thema einer breiten Beteiligung der Bürger am Produktivkapital der Gesellschaft muss deshalb stärker in die Gerechtigkeits- und Verteilungsdebatte einbezogen werden. (…) Es geht dabei nicht um Abschaffung des Privateigentums, sondern um dessen Verbreiterung. Mit dem Modell des "Investivlohns", bei dem ein Teil des Lohns in Beteiligungskapital an Unternehmen umgewandelt wird, sowie dem Modell eines steuerfinanzierten "Startkapitals" für jeden jungen Erwachsenen in Höhe von 60 000 Euro liegen zwei unterschiedliche Vorschläge auf dem Tisch, die im Hinblick auf ihre Chancen wie auf ihre Probleme gründlich diskutiert werden sollten. (…)

Die Ökologie und die grüne Marktwirtschaft

Ökologie ist die Kernkompetenz der Grünen. Am stärksten ist uns der Durchbruch zur ökologischen Modernisierung in der Energiepolitik gelungen. Unser zentrales Reformprojekt in diesem Bereich heißt "Energie 2020": eine sichere, klimapolitisch verantwortbare Energieversorgung ohne Atom und mit drastisch sinkender Ölabhängigkeit. (…)

Trotz aller Erfolge gilt: Unserem Kernbereich der Ökologie müssen wir zu neuer gesellschaftlicher Dynamik verhelfen. (…) Wir müssen zum einen die Radikalität der ökologischen Frage neu thematisieren. Dazu gehört, dass wir die Natur auch um ihrer selbst willen schützen. Auch wenn wir zu Recht den Katastrophismus früherer Tage zurückgelassen haben, sollten wir wieder zu einer Sprache finden, die die Dramatik der ökologischen Frage hinreichend deutlich benennt. (…)

Zum anderen müssen wir genauer prüfen, was in unserer Politik möglicherweise wirksameren Bündnissen entgegensteht. (…) Haben wir es vernachlässigt, einen klaren Zusammenhang herzustellen zwischen der sozialen Situation der Menschen und der ökologischen Frage? (…) Geben wir dem Gedanken der differenzierten Ökologisierung unterschiedlicher Lebensstile genug Raum? (…) Können wir aus unserer lokalen und regionalen Verbundenheit Vorteile für eine ökologische Debatte ziehen, die an "Heimatgefühl" appelliert? (…) Gibt es einen "ökologischen Kapitalismus"? Brauchen wir eine neue Wachstumsdebatte oder müssen wir die Ökologie buchstabieren als Politik der Entschleunigung und Selbstbegrenzung? (…)

Analog zur Herausbildung der "sozialen Marktwirtschaft" müssen wir zu einer "grünen Marktwirtschaft" kommen, in der die Spielregeln des Marktes ökologisch ausgerichtet werden. (…) Gesamtwirtschaftlicher Erfolg lässt sich nicht am Bruttosozialprodukt messen, sondern nur an einem Ökosozialprodukt. Kommunal und regional geeignete Indikatoren für die nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft regelmäßig zu erheben und zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen, könnte ein neues Projekt grüner Politik sein.

Zukunft der Kinder - Zukunft der Bildung

Wir Grüne treten für eine kindergerechte Gesellschaft ein. Uns geht es dabei um eine Politik, die Kinder als eigenständige Subjekte begreift. Kinder brauchen eine stärkere Stimme und umfassendere Beteiligungsmöglichkeiten. (…)

Es muss gelingen, ähnlich wie in den siebziger Jahren eine Bildungsreform in Gang zu setzen, die in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und gesellschaftlicher Kontroversen rückt. (…) Im Schulwesen brauchen wir eine grundlegende Diskussion über die geteilte Verantwortung von Eltern, Kindern und Staat. (…)

Wenn wir etwa das gemeinsame, aber individuell differenzierte Lernen bis zur neunten Klasse in einer "Schule für alle" fordern, dann kommt es jetzt darauf an, dieses einschneidende und gesellschaftlich kontroverse Anliegen zu einem nachvollziehbaren und realitätstauglichen Angebot zu machen. (…) Ohne eine klare Priorisierung und Erhöhung der Bildungsetats hat eine solche Schulreform keine Chance. (…)

Die Vorstellung einer globalen Arbeitsteilung zwischen wissensbasierter Arbeit in den hochentwickelten Ländern und einfacher industrieller und landwirtschaftlicher Arbeit im Rest der Welt ist schon heute obsolet. Das Monopol der "alten" Industrieländer auf hochqualifizierte Technologien und Produkte ist bereits von den "neuen" Industrieländern geknackt worden. Wir sollten vielmehr die Chance der Digitalisierung für eine schnellere und kostengünstigere Verbreiterung von Wissen nutzen. Ob sich auf Dauer ein Wettbewerbsvorteil der reichen Länder durch einen ständig erneuerten Wissensvorsprung halten lässt, steht in Frage. (…)

Multikulturelle Demokratie: Werte und Anerkennung

Die große Aufgabe, die sich jetzt stellt, ist die Verwandlung von Millionen von "Ausländern" in Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Wer Integration will - und wir brauchen sie, weil wir Zuwanderung brauchen -, der muss Teilhabe an Sprache, Bildung, Arbeit, gesellschaftlicher Verantwortung und politischer Entscheidung ermöglichen. Umgekehrt vertreten wir die "Zumutung" an die Adresse von Immigranten, "Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zu werden", sich also seine Sprache, Geschichte, Rechtsstaat und Demokratie zu Eigen zu machen und politische Verantwortung zu übernehmen. Das ist eine Herausforderung an beide Seiten. (…)

Ein solches Projekt ist eine vernünftige Antwort auf das, was die Wirklichkeit der globalen Migration uns abverlangt. Wir können dafür viele Bündnispartner finden, in neuen sozialen Bewegungen, in Sozialverbänden, in Gewerkschaften - und auch in Unternehmen, die sich auf dem internationalen Markt bewegen. Viele Unternehmen beginnen Vielfalt nicht als Ärgernis, sondern als Ressource zu begreifen. "Diversity-Management" gehört dort längst zur Firmenphilosophie. (…)

Ein zentrales Moment der Integration liegt in der Erwerbstätigkeit. (…) Statt Integration findet Desintegration statt, mit der Konsequenz von Exklusion und Getto-Bildung. Dieser Prozess muss wieder umgekehrt werden. Bildung und Qualifzierung sind dafür zentrale Voraussetzungen, ergänzt um eine stärkere Förderung ökonomischer Selbstständigkeit und den Abbau von Zugangshindernissen zum Arbeitsmarkt. Immigranten sind ein starker Faktor für die ökonomische Dynamik einer Gesellschaft, wenn man ihnen die Chance auf sozialen Aufstieg durch eigene Anstrengung bietet.

Die Globalisierung und Zukunft Europas gestalten

Als Alternative zur Abschottung der Märkte wie zur regellosen Marktfreiheit vertreten wir die Weiterentwicklung eines globalen Netzwerks von Abkommen zum Umwelt- und Arbeitsschutz; die Globalisierung sozialer und ökologischer Mindeststandards und die weltweite Geltung der Menschenrechte. (…) Die effektivste Antwort auf die Globalisierung des Kapitals ist die Globalisierung der Demokratie. (…) Mit der Auswanderung staatlicher Funktionen und politischer Entscheidungen, sei es ins Nirgendwo, sei es auf die unterschiedlichsten supranationalen Institutionen, droht der öffentliche politische Raum überhaupt zu zerfasern. Politische Auseinandersetzungen brauchen aber einen Adressaten, ein handelndes Subjekt, und wo dieser Adressat unklar oder diffus ist, wird zwangsläufig auch die politische Auseinandersetzung unklar und diffus. Wem sollte man seine Vorschläge noch vortragen? Gegen wen seine Forderungen richten? (…)

Das vielversprechendste Projekt der demokratischen Globalisierung, die EU, ist zweifellos in einer Legitimationskrise, und das Projekt der europäischen Einigung droht ins Stocken zu geraten. (…) Wir Grüne schlagen vor, dass der vorliegende europäische Verfassungstext im Rahmen einer breiten öffentlichen Debatte unter intensiver Einbeziehung der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments überarbeitet wird. Das Ergebnis dieser erneuten Beratung sollte am Tag der Europawahlen 2009 in allen EU-Mitgliedstaaten zugleich zur Abstimmung gestellt werden. (…)

Wer die europäischen Institutionen stark, verantwortlich, transparent und rechenschaftspflichtig machen will, muss sie gleichzeitig davor bewahren, zu viele Kompetenzen auf ihre Schultern zu laden. Die EU kann auch an einer Selbst-Überforderung scheitern. (…) Die Debatte um die Zukunft der europäischen Union muss deshalb auch die Kompetenzverteilung zwischen Regionen, Nationalstaaten und der EU noch einmal in den Blick nehmen. (…)

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Dokument erstellt am 10.04.2006 um 16:56:02 Uhr
Erscheinungsdatum 11.04.2006