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Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer

Strategie für das 21. Jahrhundert

VON PETER MICHALZIK

Schienen-Strang (ap)

In den neunziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts kürzte die amerikanische Eisenbahngesellschaft Great Northern Railway radikal die Löhne. Im gleichen Jahr 1893 war die American Railway Union (ARU) gegründet worden. Mit einem Streik legte sie die Bahn 18 Tage lahm und erreichte die Rücknahme der Kürzungen. Die ARU war die erste Industriegewerkschaft der USA und die größte überhaupt. Bereits ein paar Monate später aber stolperte sie über eine Auseinandersetzung mit der Pullman Palace Car Company. Auch hier ging es um Lohnkürzungen. Eugene V. Debs, Führer der ARU, wurde wegen Behinderung des Postverkehrs angeklagt und verurteilt, Streik und ARU lösten sich auf. Es war eine taktische Meisterleistung der Car Company: Sie hatte ihre Waggons an Postzüge gehängt, dadurch wurde der Streik zur Behinderung des Postverkehrs und war justitiabel.

Verbot, Zerschlagung und Gefängnis drohen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer nicht. Das Argument gegen sie aber ist im Kern dasselbe geblieben. Der Streik erzeuge Schaden für die Volkswirtschaft. Die SPD stellte sich in Person von Kurt Beck und Peter Struck noch eindeutiger hinter die Bahn als die Bundeskanzlerin mit ihrem Hinweis, dass beim Kampf Kopf gegen Wand am Ende immer die Wand siege. Überall wird von der GDL gefordert, Verantwortung für das Große und Ganze zu übernehmen.

Das Großeganze, besser bekannt als "Allgemeinwohl", ist es auch, auf das sich die Bahn in ihrer Argumentation stützt. Was dieses Allgemeinwohl ist, ist den führenden Vertretern aus Politik und Wirtschaft erstaunlich klar: Es besteht in einer funktionierenden Wirtschaft, einer optimalen Ausnutzung der Wertschöpfungskette, dem, was das Wort Standort bezeichnet, wenn von Deutschland die Rede ist. "Allgemeinwohl", das appelliert an die unausgesprochene Prämisse, dass uns niemand dabei stören soll, wenn wir möglichst wohlhabend sein wollen.

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Weitere Informationen zur Tarifauseinandersetzung bei der Bahn in unserem Spezial.Diese Stimmung ist massiv: Schon der selbstverständliche Satz, dass ein Streik nur wirksam sein könne, wenn er praktiziert werden dürfe, konnte zur Zeit der gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Streiks der GDL nur schüchtern vorgebracht werden.

Nicht ganz unbeeindruckt - sie wisse um ihre Verantwortung und werde zunächst nicht unbefristet streiken, sagte die GDL gestern - bleibt sie in der Sache hart. Damit tut sie mehr für die Auffrischung der momentanen Bewusstseinslage in Deutschland, als jede andere Gewerkschaft. Die GDL macht sich, allein durch die Wirksamkeit und Nachdrücklichkeit ihrer Aktionen, sogar um die Gewerkschaftsbewegung insgesamt verdient, auch wenn der DGB und Transnet davon nichts wissen wollen. Denn sie gibt den Gewerkschaften eine Idee von der Wirksamkeit des Streiks zurück und öffnet Handlungsspielräume. Die öffentliche Meinung sieht das ähnlich: Es ist erstaunlich, dass sie trotz der Behinderungen des Bahnverkehrs mehrheitlich für die GDL und ihre Forderungen ist. Es kann offenbar mehrheitsfähig sein, das Partikularinteresse vor das Allgemeinwohl zu stellen.

Das muss daran liegen, dass die GDL eine Möglichkeit aufzeigt, in modernen Gesellschaften und einer globalisierten Welt effiziente und wirkungsvolle Gewerkschaftsarbeit zu betreiben. Die Kleinen sind, solange die Macht der großen Gewerkschaften an nationalen Grenzen endet, handlungsfähiger.

Indem die GDL an einem neuralgischen Punkt ansetzen kann, nutzt sie die Verletzbarkeit der hochgradig verknüpften, arbeitsteiligen Wirtschaft gezielt aus. Eine Truppe von ein paar hundert Mann ist damit im Arbeitskampf nicht nur beweglicher, sondern auch schlagkräftiger als eine große Industriegewerkschaft mit den vielen Interessen, die sie unter einen Hut zu bringen hat. Die GDL - eine der ältesten deutschen Gewerkschaften - wirkt, als sei sie in einem Buch über Strategien für den Kampf der Arbeiter und Angestellten im 21. Jahrhundert entworfen worden. Der moderne Terrorismus hat in ähnlicher Weise die westliche Welt dadurch überrascht, dass er ihre verletzlichen Punkte aufdeckte und für sich nutzte. Das macht die GDL nicht zu einer Terrororganisation, aber es zeigt, wie und wo unsere Gesellschaft verwundbar ist.

Nun kann man sagen: Wenn da jeder käme! Ja, soll doch jeder kommen! Sollen doch die deutschen Drehbuchschreiber die Filmproduktion boykottieren, und sollen doch ein paar TV-Techniker das Fernsehen lahmlegen, sollen die Bauern Milch und Korn eine Zeit für sich behalten, sollen die Arbeiter am Band den Schraubenschlüssel zur Seite und den Betrieb lahm legen. Sollen Heizungsmonteure zu Hause bleiben, wenn der Boiler streikt, sollen die Dachdecker nach dem nächsten Sturm sagen, nein, ich komme lieber nicht, sollen die Kassiererinnen bei Aldi und die Kassierer in den Tankstellen das Tippen verweigern. Was da alles lahmgelegt werden kann! Und was wird dann passieren? Es wird sich herausstellen, dass viel mehr Leute viel wichtiger sind, als sie gedacht haben.

Die einzige Gruppierung, die neben Lokführern und Klinikärzten (nicht umsonst unterstützt Frank Montgomery vom Marburger Bund die GDL) ihre Macht bisher begriffen hat, sind die Manager. Sie haben es in den vergangenen Jahren in bewundernswerter Weise hinbekommen, ihre Partikularinteressen als das Gemeinwohl zu verkaufen. Wenn nun aber die Züge nicht mehr fahren, wird man sehen, dass es noch anderes gibt, das dem Gemeinwohl nutzt, als die Steigerung des Bruttosozialprodukts in Deutschland.

Damit bricht die GDL die Fixierung auf ein Gemeinwohl auf, das in den letzten Jahren allzu oft mit Geldakkumulation gleichgesetzt wurde. Warum sollte die Taktik der GDL so, sollte sie Schule machen und den großen Gewerkschaften die Augen für ihre Handlungsmöglichkeiten öffnen, nicht dazu beitragen, die allseits beklagte Schere zwischen Arm und Reich ein wenig zu schließen.

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Dokument erstellt am 13.11.2007 um 16:40:02 Uhr
Letzte Änderung am 13.11.2007 um 18:18:22 Uhr
Erscheinungsdatum 14.11.2007