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Dokumentation

Die neoliberalen Hosenträger

Der Sozialstaat gilt einigen als zu teuer und schwerfällig. Doch er ist kein unproduktiver Kostgänger der Wirtschaft, sondern die Grundlage für deren Funktionieren.

VON CHRISTOPH BUTTERWEGGE

Totgesagte leben länger, behauptet der Volksmund. Dies gilt auch für den Neoliberalismus, dessen Niedergang schon wiederholt verkündet wurde: Noch ist die neoliberale Hegemonie, wie man die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus nennen kann, hierzulande ungebrochen. Von seiner Überwindung kann bisher zumindest dann überhaupt keine Rede sein, wenn man unter "Neoliberalismus" nicht nur eine Theorie versteht, die während der 1930er Jahre als Reaktion auf die damalige Weltwirtschaftskrise und den keynesianischen Staatsinterventionismus entstanden ist, sondern auch eine Ideologie, die den Markt als gesellschaftlichen Regulierungsmechanismus verabsolutiert, sowie eine Strategie zu ihrer politischen Durchsetzung.

Das neoliberale Denken ist in fast alle Lebensbereiche eingedrungen und seine Hegemonie, d. h. die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, deshalb nur schwer zu durchbrechen. Diese Vormachtstellung resultiert sowohl aus einer sehr erfolgreichen Strategie der Meinungsbeeinflussung durch think tanks (Denkfabriken) und Lobbyorganisationen wie auch aus seiner Fähigkeit, geschickt an das Alltagsbewusstsein von Millionen Menschen anzuknüpfen. Dies zeigt beispielhaft, wenn der neoliberale Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat als Bürokratiekritik präsentiert wird. Denn wer hat nicht schon Erfahrungen mit einer schwerfälligen (Sozial-)Verwaltung gemacht? Und ist das Klischee, private Dienstleister handelten weniger schwerfällig als der Staat und seien preiswerter, uns nicht schon in Fleisch und Blut übergegangen?

Die entscheidende Schwachstelle des Neoliberalismus bilden weder das kaum mehr übersehbare Scheitern seiner ökonomischen Konzepte noch sein Plädoyer für eine Hochleistungs-, Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft, in der sich nur die leistungsstärksten Mitglieder behaupten, sondern sein unermüdlicher Kampf gegen einen Wohlfahrtsstaat, der Leistungsschwächere auffängt und sie sozial integriert. Deshalb kommt man nicht umhin, sich argumentativ mit seiner Kritik daran auseinanderzusetzen.

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Autor und Text

Professor Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Seit Jahren beschäftigt er sich mit und publiziert zu den Themen: Globalisierung, demografischer Wandel und soziale Gerechtigkeit.

Bei diesem Text handelt es sich um einen vom Verfasser überarbeiteter Auszug aus: Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden), 298 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 978-3-531-15185-4.Während sich der "klassische" Liberalismus als fortschrittliche Bewegung des Bürgertums in erster Linie gegen den Feudalstaat bzw. seine Überreste richtete, bekämpft der Neoliberalismus vorrangig den Sozialstaat. Da dieser ihrem Wunschbild einer sich selbst organisierenden Marktgesellschaft widerspricht, suchen Neoliberale ihn als bürokratisch verkrustet, ineffizient und freiheitsgefährdend zu entlarven. Sie eint die Ausgangsthese, jeder Wohlfahrtsstaat gefährde zumindest der Tendenz nach die Freiheit des (Wirtschafts-)Bürgers und das westliche Regierungssystem, wie sie Friedrich A. von Hayek in seiner Schrift "Der Weg zur Knechtschaft" (1944) darlegte. Bis auf wenige Außenseiter, die "anarchokapitalistische" Positionen vertreten, lehnen neoliberale Theoretiker den (Sozial-)Staat jedoch nicht pauschal ab. Vielmehr bekämpfen sie taktisch äußerst geschickt einen "überbordenden" Wohlfahrtsstaat, der seiner Klientel eine "Rundumversorgung" gewähre und damit den individuellen Müßiggang und eine "soziale Vollkaskomentalität" fördere. "Privat" geht für Neoliberale nicht zuletzt deshalb "vor Staat", weil der Markt nach ihrer Meinung neben Konsumgütern auch soziale Dienstleistungen effizienter, preisgünstiger und zuverlässiger bereitstellt.
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Hierzulande richtete sich die Sozialstaatskritik hauptsächlich gegen Reformen, welche die SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt am Ende der 1960er bzw. zu Beginn der 1970er Jahre verwirklicht hatte. Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 gingen Neoliberale zur Generalabrechnung mit einer "Wohlfahrtsdiktatur" über, die das Land gegen die Wand gefahren habe und einen politischen Neuanfang nötig mache. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Kollaps aller "realsozialistischen" Staatssysteme in Ost- bzw. Ostmitteleuropa 1989 bis 1991 verbesserten sich auch in der Bundesrepublik die Rahmenbedingungen einer neoliberalen Fundamentalkritik und der darauf basierenden ("Reform"-)Politik. Nun wurde die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat als "Irrweg" gegeißelt und jeder Staatseingriff in die Marktwirtschaft verdammt. Es scheint, als sei dem Sozialstaat nicht zufällig nach dem "Sieg über den Staatssozialismus" der Krieg erklärt worden.

Für Neoliberale ist der Wohlfahrtsstaat zu einem Monster entartet, das die Volkswirtschaft lähmt und dessen pseudosozialer Charakter die damit verbundene Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte verdeckt.

Der moderne Interventionsstaat erscheint als Wachstumsbremse und Belastung des "eigenen" Wirtschaftsstandortes. Seine öffentlichkeitswirksame Diskreditierung funktioniert fast immer nach demselben Muster: Man fordert Leistungskürzungen, untergräbt das finanzielle Fundament des Wohlfahrtsstaates und erschwert den von ihm abhängigen Menschen, seien es (Langzeit-)Arbeitslose, Obdachlose, Kranke, Behinderte oder Rentner/innen, immer mehr das Leben, ruft jedoch gleichzeitig laut "Haltet den Dieb!" und zeigt mit dem Finger auf das geschwächte System der sozialen Sicherung, um es mit weiteren "Spar"- bzw. Kürzungsvorschlägen sturmreif zu schießen.

Gemäß der neoliberalen Theorie müssen die "immobilen Faktoren" (gemeint sind vor allem gering qualifizierte Arbeitnehmer/innen) zu Gunsten der "wirklich Bedürftigen" auf Teile ihres Lohns verzichten und die Sozialversicherungsbeiträge in voller Höhe entrichten, während die Arbeitgeber davon aus Gründen ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit freigestellt werden sollten, sind die Einkommen stärker zu spreizen sowie die Höhe und die Dauer der Arbeitslosenunterstützung zu beschränken, was - gemäß dem Lohnabstandsgebot - wiederum eine Senkung der Sozialhilfe bzw. des Arbeitslosengeldes II nach sich ziehen muss.

Journalisten, vor allem Wirtschaftsredakteure überregionaler Zeitungen und Zeitschriften, sind einflussreiche Vordenker, Wegbereiter und Mitgestalter der marktfreundlichen Regierungspolitik. Das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dessen Redakteure mehrheitlich seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten dafür eintreten, die Arbeitgeber steuerlich wie hinsichtlich ihrer Sozialabgaben zu entlasten, skandalisierte am 2. April 2007 in einer Titelstory unter der Überschrift "Arm durch Arbeit. Wie der Staat die abhängig Beschäftigten immer dreister ausnimmt", dass die Arbeitnehmer/innen von der großen Koalition stärker zur Kasse gebeten würden: "Die Globalisierung drückt weiter auf die Löhne, und die abhängig Beschäftigten müssen den ausufernden Sozialstaat weitgehend allein finanzieren." Als wäre Letzteres keine zwangsläufige Folge eben jener Politik einer Senkung der unternehmerischen "Lohnnebenkosten" und der Abkehr von einer paritätischen Finanzierung des Sozialversicherungssystems!

Man bezichtigt den Wohlfahrtsstaat, die Armut nicht ernsthaft zu bekämpfen, vielmehr sogar zu erzeugen oder zu vergrößern. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle möchte ungern als "neoliberal" bezeichnet werden, hält sich und seine Partei vielmehr für "neosozial", wie er der Zeit (v. 29.9.2005) sagte: "Das Erwirtschaften, also das Schaffen von Wohlstand und Arbeitsplätzen, ist die Voraussetzung für jede sozial gerechte Unterstützung der wirklich Bedürftigen." Entgegen der Stammtischweisheit, dass eine Volkswirtschaft zuerst genügend Reichtum erzeugen müsse, bevor der Sozialstaat mittels teurer Transferleistungen die Armut von Randgruppen und benachteiligten Minderheiten lindern könne, ist dieser aber kein unproduktiver Kostgänger der Ökonomie. Vielmehr schafft seine Interventionstätigkeit erst die Grundlagen für das Funktionieren moderner Volkswirtschaften. Denn wenn ihr Unternehmen erfolgreich sein soll, brauchen Beschäftigte, die heute in Kiel und morgen in Konstanz, vielleicht aber auch schon nächste Woche in Tokio oder New York arbeiten müssen, ein hohes Maß an sozialer Sicherheit.

Die neoliberale Wohlfahrtsstaatskritik verwechselt Ursache und Wirkung, indem sie das angebliche Übermaß sozialer Sicherheit zum Krisenauslöser erklärt. Denn es verhält sich genau umgekehrt: Wirtschaftskrisen kann unser soziales Sicherungssystem nur schwer verkraften, weil es einen hohen Beschäftigungsstand zur Voraussetzung hat. Je weniger Menschen noch einen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz haben und je stärker ihr Lohn- bzw. Einkommensniveau, bedingt durch die nachlassende Kampfkraft der Gewerkschaften, unter Druck gerät, umso niedriger fallen die Beitragseinnahmen der Sozialversicherung aus, während erheblich mehr Versicherte (häufiger) Gebrauch von deren Leistungszusagen machen müssen. Statt solcher struktureller Zusammenhänge machen Neoliberale das wachsende "Anspruchsdenken" der Bundesbürger/innen für die "Krise des Sozialstaates" verantwortlich und empfehlen sozial Benachteiligten mehr Selbstbeschränkung und den Verzicht auf großzügige Transferleistungen. Sie sollen "den Gürtel enger schnallen", obwohl er längst kneift und andere die Hosenträger anhaben.


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Copyright © FR-online.de 2007
Dokument erstellt am 17.07.2007 um 15:48:01 Uhr
Letzte Änderung am 17.07.2007 um 17:01:45 Uhr
Erscheinungsdatum 18.07.2007
Copyright © 2007 Frankfurter Rundschau