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MONITOR Nr. 558 am 18. Januar 2007
Die "orangene Revolution" - Städte holen die Müllabfuhr
von Privaten zurück
Bericht: Julia
Friedrichs, Günter Hoffmann
Sonia Mikich: "Ist doch wahr: Der Staat arbeitet umständlich,
teuer und langsam. Privatunternehmen dagegen effektiv, preiswert und
schnell. Deshalb privatisieren die Städte seit Jahren
Krankenhäuser, Stromversorger, Verkehrsbetriebe. Und alle glauben,
dann Geld zu sparen.
Aber was, wenn das gar nicht stimmt? Julia Friedrichs und Günter
Hoffmann sind losgezogen und haben Kommunen gefunden, die es einfach
mal andersrum probiert haben. Ändern!"
Diese Männer hatten mal einen Job auf Lebenszeit. 18 Jahre lang
waren sie Müllmänner. Das ist jetzt vorbei. Die Politiker
hier im sächsischen Muldentalkreis glaubten an das Wunder der
Privatisierung, die alles billiger und besser machen soll. Deshalb
vergaben sie die Müllabfuhr neu - an diese Firma. Sie ist im Jahr
6.000 Euro billiger als ihr alter Arbeitgeber. Wettbewerb eben. Hier
bei dem Neuen hätten Stephan Werner und seine Kollegen auch
anheuern können. Allerdings zum halben Lohn.
Stephan Werner: "Das kann doch nicht sein, das verstehe ich nicht. Na
ja, die 12,35 Euro hatte ich die Stunde und jetzt soll ich für
6,73 Euro arbeiten? Das verstehe ich nicht."
Ein Arbeitskollege: "Das geht nicht so was!"
Stephan Werner: "Und da haben wir gesagt, das geht nicht. Aber jetzt …
jetzt stehen wir hier auf der Straße."
Reporterin: "Das heißt, Sie hatten die Wahl für die
Hälfte zu arbeiten oder arbeitslos zu sein."
Stephan Werner: "Genau ... genau so ist es."
Erste Folge der Privatisierung: 20 entlassene Müllmänner.
Ihre Arbeit hatte sie immer ernährt. Jetzt leben sie von der
Stütze. Aus Angst vor Arbeitslosigkeit nahmen einige ihrer
Kollegen das Angebot trotzdem an. Und nun wird es absurd. Die
Männer wollen anonym bleiben, zeigen uns aber ihre Lohnzettel:
Knapp 880 Euro haben sie am Ende des Monats.
Ines Jahn, Gewerkschaft verdi Sachsen: "Davon kann man nicht leben ohne
staatliche Unterstützung und die Kollegen, die also in Familie
sind mit Kindern, haben dann auch Wohngeld beantragt, Kosten der
Unterkunft, und diese Kosten muss der Muldentalkreis übernehmen."
Reporterin: "Das heißt der Muldentalkreis hat falsch gerechnet,
wenn er von einer Ersparnis von 6.000 Euro ausgegangen ist?"
Ines Jahn, Gewerkschaft verdi Sachsen: "Ja, weil es nur ... also auf
den Auftrag ... gerechnet wurde und ganzheitlich ist es nicht
betrachtet worden."
Ganzheitlich? Das heißt, in die Rechnung müsste auch dieser
Wohngeldbescheid eingehen. Allein diesem Müllmann zahlt der Kreis
3.840 Euro pro Jahr, weil er von seinem Lohn nicht leben kann. Zweite
Folge der Privatisierung: Am Ende zahlt der Staat drauf. Der Landrat
des Muldentalkreises erfährt davon erst durch die
MONITOR-Recherche.
Gerhard Gey, Landrat Muldentalkreis: "Wenn Arbeitnehmer des
Unternehmens so wenig verdienen sollten, wenn es so sein sollte, das
ergänzende soziale Leistungen erforderlich sind, dann wäre
das aus meiner Sicht nicht in Ordnung und ich kann nur noch einmal
betonen, es war auch aus unserer Sicht nicht gewollt."
Sichere Arbeitsplätze weg. Familien, die vom Staat statt von ihrer
eigenen Arbeit leben. Ihre Erfahrung mit Privatisierung wiederholt sich
überall in Deutschland.
Überall? Nein. 500 Kilometer weiter westlich liegt Bergkamen in
Westfalen. Und hier ist alles anders. Seit man die "orangefarbene
Revolution" wagte. Dass der Markt mit unsichtbarer Hand die Preise
senkt, glaubt die Kommune schon lange nicht mehr und verstaatlichte
ihre Müllabfuhr. Markus Klammer leert die Tonnen jetzt im
"öffentlichen Dienst". Er bekommt natürlich Tariflohn,
verdient doppelt so viel wie seine Kollegen aus Sachsen.
Markus Klammer, Stadt Bergkamen: "Mir gefällt's, die Arbeit macht
Spaß. Da hat man nicht so viel Stress wie bei dem privaten
Unternehmer. Also ich find's ganz gut, ja."
Schön für die Müllmänner. Aber sicher schlecht
für die Kassen der Stadt, für die Portemonnaies der
Bürger? Von wegen! Hier im Rat der Stadt Bergkamen rechneten sie
das Projekt "Verstaatlichung" dutzende Male durch. Dann waren sie sich
sicher: Wir sparen richtig viel Geld. Hauptgründe: Die
Gewinnmargen der privaten Entsorger sind hoch, die Gehälter der
Vorstände auch. Für die Müllabfuhr nahm der private
Anbieter 1,1 Millionen Euro. Die Stadt selber schafft es für 770
000 Euro. Macht eine Ersparnis von 30 Prozent.
Reporterin: "30 Prozent ist ja eine Menge. Waren Sie überrascht,
dass da so viel Luft drin ist?"
Roland Schäfer, Bürgermeister Bergkamen: "Also ich war schon
ein bisschen überrascht. Dass wir es günstiger hinkriegen
könnten, hatte ich schon vermutet in den Vorstudien. Aber 30
Prozent ist ordentlich."
Die Stadt investierte in moderne Fahrzeuge und eben in die Löhne
der Müllmänner. Trotzdem blieb noch immer genug übrig,
um die Müllgebühren zu senken. Um 10 Prozent im ersten halben
Jahr.
Reporterin: "Wie finden Sie das?"
Bürger: "Sehr gut, sehr gut. Ich mein, es wird halt normalerweise
überall teurer."
Bürger: "Für mich ist es sehr eigenartig, weil in der
Vergangenheit alle Dinge eigentlich privatisiert wurden. Und jetzt auf
einmal soll die Kommune wieder preiswerter sein als die Unternehmen."
Ist sie aber. 20 Euro pro Jahr spart ein Haushalt. Einfach nur, weil
der Bürgermeister pragmatisch handelte.
Roland Schäfer, Bürgermeister Bergkamen: "Wir sind nicht
ideologisch rangegangen, wir haben eben nicht von vorneherein gesagt,
privat ist besser oder öffentlich ist besser, sondern wir haben
für jeden Einzelfall das sehr sorgfältig untersucht und dann
unsere Entscheidung nach sorgfältiger Abwägung getroffen."
Rechnen pro Tonne - darauf will sich der Verband der privaten Entsorger
gar nicht einlassen. Für ihn ist das ganze eine Grundsatzfrage.
Stephan Harmening, Bundesverband der Deutschen Entsorger: "In Summe
müssen wir uns doch wirklich fragen, welchem Prinzip vertrauen
wir. Glauben wir, dass der Markt funktioniert oder glauben wir, dass
man alles zentral steuern kann - von staatlicher Seite?"
Reporterin: "Und was denken Sie?"
Stephan Harmening, Bundesverband der Deutschen Entsorger: "Und da
beantworten wir die Frage ganz klar: Der Mechanismus, der über
Jahrhunderte hinweg unter Beweis gestellt hat, dass er funktioniert,
das ist der Markt."
Genau daran haben immer mehr ihre Zweifel. Die Nachricht von der
"orangefarbenen Revolution" in Bergkamen verbreitete sich im ganzen
Land. Mittlerweile holten sich sieben andere Kreise ihre
Müllabfuhren von den Privaten zurück. Dem Beispiel Bergkamen
folgten der Rhein-Sieg-Kreis, die Kreise Aachen und Hannover, der
Neckar-Odenwald-Kreis, der Rhein-Hunsrück-Kreis und die Uckermark.
Andere Kommunen waren nicht ganz so mutig, trauten sich die Revolution
an der Tonne nicht zu. Wegen hunderter Bedenken, die der
Bürgermeister von Bergkamen längst auswendig kann.
Roland Schäfer, Bürgermeister Bergkamen: "Das kann nicht
funktionieren, das wird doch auf jeden Fall viel, viel teurer bei der
Öffentlichen Hand. Das weiß man doch, dass die
unwirtschaftlich arbeitet. Außerdem wird das alles gar nicht
klappen, dann klappt die Müllabfuhr nicht ... Also da hat es eine
Menge kritische Stimmen gegeben, die sie sind aber alle ruhig jetzt.
Und inzwischen sagen die Leute, das klappt toll, das läuft schon
und Gebührensenkung ist auch in Ordnung."
Die Müllrevolution ist übrigens nicht die einzige hier. Auch
Strom, Gas, Wasser und Straßenreinigung haben sie sich
zurückgeholt - nach demselben Muster: Verträge mit den
Privaten kündigen, selber machen. Fertig.
© WDR 2007