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Euromemorandum
Die EU-Eliten ignorieren das Volk
Der in Lissabon feierlich verabschiedete EU-Reformvertrag ist nach
Ansicht vieler europäischer Wissenschaftler unsozial,
demokratiefeindlich und aggressiv.
Im
EU-Schilderwald: (Bild rtr)
In diesem Abschnitt (Kapitel 2.1 des Euromemorandums: Der
"Reformvertrag" - Die Gegenreform der EU-Eliten in neuer Aufmachung,
Red.) kritisieren wir die EU-Politik in den zentralen Feldern der
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Wir zeigen zunächst
auf, dass der vielgepriesene Reformvertrag noch immer nichts anderes
enthält als den neoliberalen Inhalt des alten Entwurfes; die
Stoßrichtung auf eine Stärkung der Militärmacht der EU
wurde beibehalten; die Verbesserungen der Mitbestimmungsrechte des
Europäischen Parlamentes überwinden die grundsätzlichen
Demokratiedefizite dieses Vertrags nicht.
Wir kritisieren die anhaltende Deregulierungswut der Kommission, mit
der sie fundamentale öffentliche Dienstleistungen der Logik des
Binnenmarktes unterwirft und die Arbeitsmärkte noch
größerer Flexibilität aussetzen möchte. Angesichts
dieses Deregulierungsschubs ist die europäische
Einwanderungspolitik viel zu rigide und restriktiv, während auf
der anderen Seite in der Klima- und Energiepolitik keine konkreten
Aktionen hinter der starken Rhetorik zu erkennen sind.
Unserer Meinung nach ist es alarmierend, dass die EU eine zunehmend
aggressivere Außenhandels- und Investitionspolitik und eine
neoliberale Umstrukturierung der Beziehungen mit ärmeren
Ländern anstrebt, anstatt einen Kurs der stärkeren
Orientierung hin zu mehr Binnenstabilität und Kohäsion
einzuschlagen.
Das Euromemorandum
"Vollbeschäftigung mit guter Arbeit, ein starker öffentlicher
Sektor und internationale Zusammenarbeit. Demokratische Alternativen zu
Armut und Unsicherheit", lautet der Titel des Euromemorandums 2007, das
von rund 300 Wirtschaftswissen- schaftlerInnen aus 22 der 27
EU-Mitgliedsländer unterschrieben wurde. Es kritisiert die
Entwicklung der EU zu einem marktliberalen und nach innen und
außen zunehmend aggressiven Machtblock, der nicht in der Lage
ist, den wachsenden sozialen und ökologischen Probleme in Europa
angemessen zu begegnen. Die Folge seien hohe Arbeitslosigkeit,
prekäre Arbeitsverhältnisse , wachsende Armut und soziale
Ungleichheit.
Die Euromemorandum-Gruppe ist ein Netzwerk europäischer
Wirtschafts- wissenschaftlerInnen, das seit 1995 die EU-Wirtschafts-
und Sozialpolitik analysiert und Alternativen entwickelt.
www.memo-europe.uni-bremen.deWer erwartet hatte, dass nach dem
französischen und holländischen "Nein" zum
EU-Verfassungsvertrag im Jahre 2005 eine breite Konsultation mit der
Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten über die Zukunft Europas
stattfinden würde, kann nur bitter enttäuscht sein.
Die "Denkpause" bis 2007 wurde seitens der EU-Institutionen nicht
genutzt, um einen solchen Dialog mit den Bürgerinnen und
Bürgern zu führen. Stattdessen zogen die politisch
Verantwortlichen die Vertragsreform ohne breite Konsultation mit hohem
Tempo durch. Am 19. Oktober 2007 verabschiedete der EU-Gipfel in
Lissabon den neuen EU-"Reformvertrag". Er wurde (am Donnerstag) auf dem
EU-Gipfel (in Lissabon) unterzeichnet, nun beginnt der
Ratifizierungsprozess. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sind fest
entschlossen, neue Referenden oder Volksabstimmungen über diesen
Vertrag zu vermeiden, die erneut zum Scheitern des Projekts führen
könnten. Diese Inszenierung der Vertragsreform als ein Projekt,
das von den Regierungen hinter verschlossenen Türen und ohne
breite Konsultation mit der Bevölkerung der Mitgliedstaaten
ausgehandelt wurde, belegt, dass es sich ganz und gar um ein Projekt
der Eliten handelt.
Die vielleicht bemerkenswerteste Veränderung im Vergleich zum
gescheiterten Verfassungsvertrag ist, dass auf den Begriff "Verfassung"
ganz verzichtet wird und auch auf alle damit zusammenhängenden
Symbole, welche die EU als eigenständige Einheit darstellen. Dies
überrascht doch sehr - hatten doch die führenden Politiker
der EU und die etablierten Medien mehrere Jahre gebetsmühlenhaft
den Standpunkt vertreten, dass die EU eine Verfassung braucht, um zur
"Finalität der europäischen Integration" voranzuschreiten.
Stets wurde betont, die EU könne nicht mehr mit schrittweisen
Vertragsänderungen im Stile von Maastricht, Amsterdam und Nizza
weitermachen. Nun aber folgt der neue "Reformvertrag" genau diesem
alten Muster: es handelt sich um einen "Änderungsvertrag", genau
wie der EU-Vertrag von Nizza ein bloßer Änderungsvertrag des
Vertrags von Amsterdam war.
Die öffentliche Kritik in 2004 und 2005 richtete sich allerdings
nicht gegen den Begriff und das Projekt einer Verfassung für die
Europäische Union, sondern gegen den Inhalt des vorgeschlagenen
Verfassungsvertrags - das demokratische Defizit der EU, die neoliberale
Ausrichtung der Bestimmungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik und die
Stärkung der militärischen Komponente der EU.
Die führenden Politiker der EU hätten auf diese Kritik
eingehen können, indem sie nach den Referenden in Frankreich und
den Niederlanden einen kürzeren, verständlicheren
Verfassungsentwurf vorgelegt hätten, der Aussagen über
Grundwerte, Ziele, Institutionen und Verfahrensregeln für eine
demokratische Europäische Union enthält - statt neoliberale
Politik und gestärkte militärische Kapazitäten der EU in
"Verfassungsrang" zu erheben. Sie entschieden sich für das
Gegenteil: Aufgabe des Begriffs einer "Verfassung", aber Festhalten an
den stark kritisierten Inhalten. Die etablierten Medien versuchten den
Eindruck zu erwecken, bei den Verhandlungen zur Vertragsreform ginge es
nur noch um eine Art "Mini-Vertrag". Dies entspricht nicht den
Tatsachen. In Wirklichkeit sind gut 90 Prozent der inhaltlichen
Bestimmungen des gescheiterten Verfassungsvertrags in den neuen
"Reformvertrag" aufgenommen worden.
Vor allem Teil III des Verfassungsvertrags (neoliberaler Zuschnitt der
Wirtschafts- und Sozialpolitik) und die heftig kritisierten
Bestimmungen zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
finden sich nahezu wortgleich im "Reformvertrag" wieder. Die wenigen
Änderungen im Vergleich zum Verfassungsvertrag beziehen sich vor
allem auf institutionelle Fragen: die Zahl der Kommissionsmitglieder
wird reduziert; die Stärkung des Präsidenten der Kommission
wird auf 2014 hinausgeschoben; das neue Abstimmungsverfahren im Rat
(doppelte Mehrheit) tritt ebenfalls erst 2014 bzw. vollständig
2017 in Kraft; der vormals vorgesehene Posten des Außenministers
der Europäischen Union wird umbenannt zum "Hohen Vertreter der
Union für Außen- und Sicherheitspolitik"; ein Protokoll
über die Unterrichtung der nationalen Parlamente wird
beigefügt, welches die Frist, in der nationale Parlamente mit
einer Stellungnahme auf Initiativen der Kommission reagieren
können, von 6 auf 8 Wochen ausdehnt; die Zahl der Politikbereiche,
die einer Mehrheitsentscheidung im Rat und dem
Mitentscheidungsverfahren durch das Europäische Parlament
unterliegen, wird erweitert. Letzteres ist begrüßenswert,
ändert aber nichts am grundsätzlichen demokratiepolitischen
Defizit der EU, wonach das Europäische Parlament noch nicht einmal
ein Initiativrecht auf Gesetzgebung hat.
Was unseren Arbeitsbereich als Wirtschaftswissenschaftlerinnen und
Wirtschaftswissenschaftler angeht, so gibt es keine gewichtigen
Änderungen durch den "Reformvertrag". Unter den Zielbestimmungen
der EU wird nunmehr nur der "Binnenmarkt" genannt, ohne den im
Verfassungsvertrag zuvor enthaltenen Zusatz "mit freiem und
unverfälschten Wettbewerb". Während Frankreichs
Präsident Nicolas Sarkozy dies zu einem Sieg für ein
sozialeres Europa erklärt, ist die wirkliche Bedeutung dieser
Änderung gleich null. Die Bestimmungen zum Binnenmarkt im "Vertrag
über die Arbeitsweise der Europäischen Union" bleiben die
gleichen wie zuvor in Teil III des Verfassungsvertrags. Ein neues
"Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb" hält
fest, "dass zu dem Binnenmarkt, wie er in Artikel 3 des Vertrags
über die Europäische Union beschrieben wird, ein System
gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt",
und erteilt der EU-Ebene die Kompetenz, demgemäß zu handeln.
Wir sind nicht gegen Wettbewerb im Rahmen wohl definierter Regeln, aber
wir lehnen den Wettbewerb von Regelungssystemen ab, wie er im
EU-Vertrag vorherrscht. Dem "Reformvertrag" ist ein neues "Protokoll
über Dienste von allgemeinem Interesse" beigefügt. Dort
werden "die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der
nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie
Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf eine den
Bedürfnissen der Nutzer so gut wie möglich entsprechende
Weise zu erbringen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind",
betont. Während diese Formulierungen möglicherweise dazu
beitragen können, dass der Europäische Gerichtshof die
Binnenmarktregeln in Zukunft weniger eng auslegt, hebt das Protokoll
allerdings nicht die Vertragsbestimmungen auf, wonach Dienste von
allgemeinem wirtschaftlichem Interesse grundsätzlich den
Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln unterliegen. Für
"nicht-wirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse" hält
dieses Protokoll fest: "Die Bestimmungen der Verträge
berühren in keiner Weise die Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse
zu erbringen, in Auftrag zu geben und zu organisieren."
Auf nicht-wirtschaftliche Tätigkeiten findet der Vertrag aber
ohnehin keine Anwendung. Der Bezug auf "Dienste von allgemeinem
Interesse" könnte für neue Diskussionen interessant sein,
aber die Kommission hat längst klargestellt, dass Dienstleistungen
fast immer als "wirtschaftliche Aktivitäten" zu betrachten sind
und somit unter die Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln fallen.
Wir fassen zusammen: Der Entwurf des "Reformvertrags" präsentiert
in neuer Aufmachung im Wesentlichen dieselben Inhalte wie der
gescheiterte Verfassungsvertrag, während der Ratifizierungsprozess
in keinem Fall durch den "Volkswillen" (Referenden) gestört werden
soll. Wir lehnen ihn aus den gleichen Gründen ab, die wir schon in
der Diskussion um den Verfassungsvertrag (Euromemorandum 2004 … und zur
"Denkpause" im Euromemorandum 2005) vorgebracht haben.
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Copyright © FR-online.de 2007
Dokument erstellt am 13.12.2007 um 16:56:04 Uhr
Letzte Änderung am 13.12.2007 um 17:15:27 Uhr
Erscheinungsdatum 14.12.2007