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Aus "express"
Zeitung für sozialistische Betriebs und Gewerkschaftsarbeit
Nr.4/2009, 47. Jahrgang (gescannt)
Die Chance der Krise
von Joachim Hirsch
Oftmals waren ökonomische Krisen der Ausgangspunkt tiefer
gehender, bisweilen auch emanzipativer gesellschaftlicher
Veränderungen. So etwa die Weltwirtschaftskrise in den
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, der immerhin der
Übergang zum fordistischen und in gewisser Weise
»sozialen«
Kapitalismus folgte, gekennzeichnet durch staatliche Einkommens- und
Vollbeschäftigungspolitik sowie einen allmählichen Ausbau der
sozialen Sicherungssysteme.
Der Weg dahin führte allerdings über Faschismus und Krieg. In
der aktuellen Krise werden häufig Parallelen zu der Situation
damals gezogen. Das gilt zweifellos für das Ausmaß des
ökonomischen Debakels, aber ebenso gewiss nicht für die
gesellschaftlichen und politischen Folgen .
In der politischen und medialen Öffentlichkeit wird eine
Krisenrhetorik zelebriert, die vor allem darauf zielt, ein umfassendes
Kapitalsanierungsprogramm zu Lasten der Bevölkerung zu
rechtfertigen. Die mit der neolibc-ralen Offensive im globalen
Maßstab durchgesetzte Umverteilung zugunsten des Kapitals ist
eine wesentliche Ursache für die aktuelle Krise. Diese Politik,
die zu einem ökonomischen Desaster geführt hat, wird
praktisch fortgeführt. Doch Neoliberalismus und
Marktradikalismus sind keinesfalls tot. Sie wirken in modifizierter
Form weiter. Das neoliberale Credo bekommt sozusagen eine
staatliche Facette. Da der Markt wieder einmal versagt hat, obliegt es
eben dem Staat, diesen wieder funktionsfähig zu machen, was
heißt, die Kapitalverwertungsbedingungen zu verbessern. Darauf
reduziert sich momentan die allseits beschworene »Wiederkehr des
Staates«. Der postfordistische Marktradikalismus verwandelt sich
sozusagen in einen staatsmonopolistisch gemanagten.Die von Politikern,
Unternehmern und deren wissenschaftlichen Wasserträgern
vorgetragene Krisenrhetorik hat ein eigenartiges Doppelgesicht. Auf der
einen Seite heißt es, man habe die Krise eigentlich im Griff, und
der Aufschwung sei nur eine Frage der Zeit. Auf der anderen Seite
werden
gleichzeitig deren katastrophale Ausmaße beschworen. Das hat eine
Logik: Das eine dient dazu, die
Bevölkerung zu beruhigen und ihr weiszumachen, dass der
Kapitalismus durchaus funktionsfähig und Krisen zwar
unvermeidlich, aber beherrschbar seien; das andere soll weitere
Einschnitte in die Massenein kommen und die sozialen Sicherungssystemc
rechtfertigen. Von vielen und nicht zuletzt von den für die Moral
zuständigen Bischöfinnen beider Konfessionen wird gerne die
»Gier« mit ihren angeblich ruinösen Folgen beklagt -
als sei die permanente Suche nach Extraprofiten nicht ein
grundlegendes Strukturmerkmal eben des Wirtschaftssystems, das man nun
wieder »ethischer« und »verantwortlicher«
gestalten möchte. Gleichzeitig wird den Leuten aber klar gemacht,
dass die Rettung darin liege, dass sie ihren Gürtel noch enger
schnallen. Offenbar sind sie diejenigen, deren Ansprüche zu
zügeln sind. Während sie also verzichten sollen, werden
Banken und andere »systemrelevante« Unternehmen mit
Abermilliardcn saniert. Ihre »Gier« soll folgenlos bleiben,
sieht man einmal von der Scheindebatte über die Begrenzung von
Managergehältern ab. Die Deutsche Bank meldet bereits wieder eine
Kapitalrendite von 25 Prozent und Ackermann, diese Symbolgestalt
der hemmungslosen Bereicherung, bekommt seinen Vertrag verlängert.
Also auch hier Kontinuität .
Die Kriscnrhetorik sorgt dafür, dass Massenentlassungen zur
Selbstverständlichkeit werden. Sie sind ein probates Druckmittel,
um mit dem Verweis auf eine allerdings keinesfalls gewährleistete
Sicherung der Arbeits platze die Löhne weiter zu senken. Diese so.
len in diesem Jahr um zweieinhalb Prozent sinken, real also um fast
vier. Und da die Renten an diese gekoppelt sind, stehen auch diese zur
Debatte, die allerdings bis nach de Wahl verschoben werden soll.
Eine Rentenkürzung würde noch weitere Menschen i die Armut
treiben. Nachdem die Unternehmen ihre prekär Beschäftigten,
insbesondere die Leiharbeiter hinausgeworfen haben, übe nimmt der
Staat das Kurzarbeitergeld für di noch Beschäftigten, d.h.
für diejenigen »Kernbelegschaften«, die für die
Unternehmen ohnehin unverzichtbar sind und daher gar nicht entlassen
werden könnten.
Die Automobilindustrie hatte infolge ihrt: Überkapazitäten
schon lange vor dem offenen Ausbruch der Krise sinkende Absatzzahlen
verzeichnet. Diese Uberkapazitäten sine struktureller Natur,
hierzulande noch dadurch verschärft, dass sich die Industrie au:
die Produktion besonders spritfressender UR.I umweltverschmutzender
»jurassic cars« konzentriert hat. Damit sich daran nichts
ander: wird eine Abwrackprämie bezahlt, die wiederum Milliarden
kostet und die Probleme bestenfalls auf die kommenden Jahre verschiebt.
Ein probates Wahlgeschenk ist das indessen allemal .
Es wird jedoch zurückgezahlt werden müssen, unter anderem
auch von denen, die die Abwrackprämie jetzt kassieren.
Überhaupt: die infolge der Kapitalsi-nierungsmaßnahmen
gigantisch ansteigende Staatsverschuldung muss verzinst und irgendwann
getilgt werden. Das geschieht aus Steuern. Wer diese aufbringen wird,
ist klar. Jedenfalls nicht die Unternehmen, die u keinesfalls belastet
werden dürfen, weil das dem Aufschwung schadet. Abgesehen davon
wird das derzeit in die Wirtschaft gepumpte Geld auf längere Sicht
erhebliche inflationäre Wirkungen haben. Das gilt zumindest auf
längere Sicht, auch wenn im Moment eher Prcisstabilität
herrscht oder sogar das Gespenst einer Deflation an die Wand gemalt
wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass die Politik des
leichten Geldes, die nach herrschender Meinung zur Krise geführt
hat, nun als Mittel zu ihrer Behebung verstärkt weitergeführt
wird. Immerhin aber mindert eine Inflation die reale
Staatsverschuldung. Das geht indessen zu Lasten derer, die über
kein Realvermögen verfügen. Auf eine Vermögenssteuer hat
selbst die SPD in ihrem Wahlprogramm verachtet. Man muss ja in Richtung
Mitte koalitions- und damit regierungsfähig bleiben.
Um die Mitte des letzten Jahrhunderts hatte der Übergang zum
fordistischen Kapitalismus, auch »soziale Marktwirtschaft«
genannt, zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise geführt.
Keynesianische Wirtschaftspolitik stand auf der Tagesordnung, wobei
allerdings der Anteil des kriegswirtschaftlichen
Rüstungs-keynesianismus nicht vergessen werden darf. Diese
Entwicklung lag keinesfalls in der Logik des Kapitalismus, sondern war
gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen geschuldet. Sie wurden
nicht zuletzt durch die Ost-West-Systemkonkurrenz bestimmt, aber auch
durch das damals noch wache Bewusstsein über den Zusammenhang von
Faschismus und Kapitalismus. Das Kapital war deshalb genötigt,
sich etwas ziviler und demokratischer zu geben und gewisse materielle
Zugeständnisse zu machen. Dies, die kriegsbedingte
Kapitalvernichtung und gleichzeitige Modernisierung der
Produktionsmittel während des Nationalsozialismus schufen die
Grundlage für den lang anhaltenden ökonomischen
Nachkriegsboom.
Heute sind die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse
vollkommen anders. Nach dem Untergang des Staatssozialismus und dem
»Sieg« des Kapitalismus spielt die Frage einer anderen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung praktisch keine Rolle mehr.
Zugeständnisse des Kapitals sind aus diesem Grunde nicht mehr
notwendig.
Die als »Globalisierung« bezeichnete neoliberale
Transformation des Kapitalismus und die damit mobilisierte
Standortkonkurrenz haben dazu geführt, dass die liberale
Demokratie zu einer Formalie verkommen ist. Staatliches Handeln ist
kaum mehr ein Ergebnis demokratischer Prozesse, sondern folgt ganz
unverblümt den Imperativen der Kapitalverwertung, die als
unbeeinflussbar dargestellt werden. Das Ergebnis ist eine verbreitete
politische Apathie. Dies ist wohl ein Grund dafür, dass die von
den Herrschenden befürchteten sozialen Unruhen bislang
ausgeblieben sind.
Möglicherweise spielt auch eine Rolle, dass im Land des ehemaligen
Wirtschaftswunders der ökonomische Wunderglaube immer noch
verbreitet ist. Was ansonsten bleibt, ist die Hoffnung, dass »die
da oben«, deren Handeln sich ohnehin nicht beeinflussen
lässt, es irgendwie hinkriegen werden und es für einen selbst
nicht ganz so schlimm kommt. Der tief ins allgemeine Bewusstsein
eingesunkene Neoliberal ismus hat zur Folge, dass die Lösung
gesellschaftlicher Probleme in das Private verschoben wird. Man muss
halt selbst schauen, dass man irgendwie durchkommt. Margaret Thatchers
Spruch, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen, ist zum
Allgemeingut geworden.
Die Krise erweist sich also zunächst vor allem als Chance für
das Kapital. Die Politik, die zu ihr geführt hat, wird
entschlossen fortgesetzt. Das bedeutet, dass der Krisenprozess
praktisch auf Dauer gestellt wird. Dessen gesellschaftliche Folgen sind
mehr als einschneidend. Es ist bekannt, dass die Dynamik des
Kapitalverwertungsprozesses dazu führt, dessen ökonomische
und soziale Voraussetzungen zu ruinieren, wenn es nicht zu politischen
und gesellschaftlichen Gegenbewegungen kommt. Diese sind momentan kaum
zu sehen. Daher sehen die länge rfristi gen Aussichten auch
für das Kapital nicht besonders rosig aus. Die politischen Systeme
haben sich gegen gesellschaftliche Interessen weitgehend abgeschottet.
Die herrschenden Parteien und Regierungen sind nicht viel mehr als
Büttel des Kapitals, die sich bestenfalls in Wahlkampfzeiten mit
einigen Populismen garnieren. Für die Entstehung
gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, die die der
kapitalistischen Gesellschaft innewohnende selbstzerstörerische
Entwicklung bremsen könnten, sind das keine guten Voraussetzungen.
Etwas mehr »soziale Unruhe« wäre deshalb durchaus
hilfreich, sofern sie nicht eine - von der herrschenden Politik
geförderte - reaktionäre Wendung nimmt.
Eine Überwindung der desaströsen Zustände ist nur
möglich, wenn das Bewusstsein davon wächst, dass es so nicht
weiter gehen kann, dass ganz andere Formen von Wirtschaft und
Gesellschaft gefunden und erkämpft werden müssen. Der in
Aussicht stehenden Dauerkrise kann nur begegnet werden, wenn die
Kapitalismusfrage wieder auf die Tagesordnung kommt. Auch wenn es
danach im Moment nicht aussieht: Bekanntermaßen stirbt die
Hoffnung zuletzt — und vielleicht doch nicht erst nach dem
endgültigen Rückfall in die Barbarei.
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Der Verfasser
Joachim Hirsch ist Mitglied der Redaktion des »links-netz«,
für das der Beitrag verfasst wurde. Auf der Seite
www.lmks-netz.de finden sich außerdem weitere Texte zu den
»Chancen der Krise.