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Frankfurter
Rundschau Samstag/Sonntag, 16./17. August 2008
64. Jahrgang Nr.191 D/R/S,
THEMA DES TAGES, Seite 3
Ruf nach Abspaltung Nicht nur in
Georgien geraten territoriale Integrität und
Selbstbestimmungsrecht der Völker in Konflikt. Die FR stellt
weitere Regionen vor, in denen der Streit um Autonomie tobt.
Der Preis der Unabhängigkeit
Was wird aus Südossetien und
Abchasien? Das soll deren Bevölkerung entscheiden, fordert
Russlands Präsident Dmitri Medwedew. Dabei geht es in
Autonomie-Konflikten nie allein um den Willen der beteiligten
Völker, sondern immer auch um die Interessen der Weltmächte.
Völkerrecht
Das Selbstbestimmungsrecht der
Völker sieht vor, dass jedes Volk frei
und ohne Einflüsse von außen über seinen politischen
Status, seine
Staatsform und seine kulturelle Entwicklung entscheiden kann.
In der Charta der Vereinten Nationen
wird dieser Rechtssatz in den
Artikeln l und 55 erwähnt. In Artikel l heißt es, die UN
habe unter
anderem zum Ziel, „freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz
der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende
Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete
Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen".
Nordirland
Der Nordirland-Konflikt flammte in den 1960er Jahren erneut auf, als
sich die irisch-stämmige, katholische Bevölkerung gegen die
Diskriminierung durch die den Briten treue, protestantische Mehrheit
wehrte. Auf ihrer Seite kämpfte die Partei Sinn Fein für die
nationale Selbstbestimmung und den Abzug der Briten. Ihr
militärischer Arm war die Untergrundorganisation IRA, der auf
protestantischer Seite militante Organisationen wie die UFF oder UVF
gegenüberstanden. Nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs mit mehr
als 3000 Toten gab es in den 90ern erste Friedensgespräche. Sie
gipfelten im Abkommen von 1998. Seit Mai 2007 teilen sich Sinn Fein und
die DUP, die führenden Parteien beider Lager, die Macht in der
Bel-faster Regionalregierung. wit
Westsahara
Einer der am gründlichsten vergessenen Konflikte der Welt: Seit
1975 hältMarokko die ehemalige spanische Kolonie Westsahara
besetzt. Die Westsahara ist etwa halb so groß wie Spanien, hat
aber nur rund 250 000 Einwohner, davon weniger als ein Fünftel
saha-rauischen Ursprungs. Die meisten Saharauis, etwa 160000, leben
unter erbärmlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern in der
Nähe der westalgerischen Stadt Tin-douf. Alle Versuche der UN, ein
Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit der
Westsahara abzuhalten, wurden von Marokko verhindert. Marokko ist
Europa und den USA ein teurer Partner: als Puffer gegen den Ansturm
afrikanischer Migranten und als Mitstreiter im Kampf gegen den
islamistischen Terror, mad
Baskenland
Das Baskenland mit rund zwei Millionen Einwohnern ist, seit es den
spanischen Staat gibt, ein Teil Spaniens. Eine Minderheit der Basken
will die Unabhängigkeit, und ein noch kleinerer Teil kämpft
dafür mit den Mitteln des Terrors. Es ist kein ethnischer, sondern
ein politischer Konflikt. Zwischen „Basken" und „Spaniern" lässt
sich keine Trennlinie ziehen, sie verläuft entsprechend dem
Gefühl der Zugehörigkeit: zwischen baskischen Nationalisten,
die sich fremd in Spanien fühlen, und Basken, die das nicht tun.
Das Baskenland besitzt weitgehende Autonomie, die baskische Sprache,
die längst nicht alle Basken sprechen, wird stark gefördert.
Die separatistische Terrororganisation ETA mordet noch hin und wieder,
ist aber schwächer denn je. mad
Kosovo
Das Kosovo, erst eine serbische Provinz und nach dem Krieg von 1998-99
fast acht Jahre lang ein UN-Protektorat, hat sich im Februar für
unabhängig erklärt. Nur 43 von 196 UN-Mitgliedern, vor allem
die USA und ihre Alliierten, haben den neuen Staat anerkannt. Serbien
und Russland halten dagegen. EU- und Nato-Staaten wollten die
Unabhängigkeit aus Furcht vor der albanischen Mehrheit. Russland
fühlte sich übergangen - zu Recht, von den Beratungen wurde
Moskau ausgegrenzt. Weil die Westmächte im Sicherheitsrat nicht
durchkamen, dehnten sie die geltende Resolution aus.
Völkerrechtlich herrscht damit ein Schwebezustand, mpn
Berg-Karabach
Seit Jahrhunderten streiten Aserbaidschaner und Armenier um Berg
Karabach, das auf serbaidschanischem Gebiet liegt, aber
überwiegend vonArme-niern bewohnt wird - heute sind es noch
140000. Aus dem Kampf ums Territorium wurde später ein kultureller
Konflikt. Armenier sind christlich, die sie umgebenden Völker
meist muslimisch. Nationalistische Strömungen in den 1980er Jahren
führten zu Pogromen auf beiden Seiten. 1991 rief die Region ihre
Unabhängigkeit aus, international anerkannt wurde sie nicht. Im
folgenden Krieg von 1992-94 starben mehr als 30 000 Menschen. Seit 1994
herrscht Waffenstillstand. vf
Bolivien
Bolivien droht unter seinem ersten indigenen Präsidenten Evo
Morales zu zerbrechen. Er will die größtenteils armen Indios
im östlichen Hochland stärker am Reichtum des Landes
beteiligen. Die relativ wohlhabenden West-Provinzen wollen aber nicht
teilen. Sie drohen mit Abspaltung. Von den Bodenschätzen (Gas,
Öl, Metalle) und Landwirtschaftserträgen profitierten bislang
zumeist ausländische Konzerne und die weiße Oberschicht. Das
jüngste Referendum bestätigte nun sowohl Morales als auch
einige seiner Gegner. Die USA misstrauen Morales als ehemaligem
Kokabauern und Freund des venezolanischen Präsidenten Hugo
Chävez. Sie wollen in ihrem Anti-Drogen-Feldzug die bolivianischen
Kokain-Quellen austrocknen, aud
Darfur
Die nichtarabischen Bevölkerung des Darfur erhob sich im Februar
2003 gegen die sudanesische Zentralmacht, um weitgehende
Selbstbestimmung zu erlangen. Sie hoffte auf die Unterstützung der
USA, die bereits der südsudanesischen Befreiungsarmee SPLA bei
ihrem Unabhängigkeitskampf zur Seite gestanden hatten. Washington
war daran gelegen, die islamischen Machthaber in Khartum zu
schwächen, denen es Unterstützung des internationalen Terrors
vorwirft. Anders als im Südsudan, wo sich die SPLA fast als
Monopolmacht zu etablieren wusste, geriet die Lage im Darfur
völlig außer Kontrolle: Dort gibt es inzwischen mehr als 20
Rebellengruppen, die nicht mehr nur die Regierungsarmee, sondern auch
einander bekämpfen. Jod
Kurdengebiete
Verteilt auf sechs Länder leben rund 25 Millionen Kurden zwischen
dem Taurus, dem Zagrosgebirge und dem Großen Kaukasus. Die
Türkei hat mit 14 Millionen die meisten Kurden, gefolgt von Iran,
Irak und Syrien. Der Traum von einem eigenen Staat scheiterte aber
bisher nicht nur an den machtpolitischen Realitäten, sondern auch
an Rivalitäten zwischen sunnitischen und schiitischen Kurden. In
der Türkei streitet die 1978 gegründete marxistische PKK
für einen eigenen Kurden-staat, ihr bewaffneter Kampf hat bisher
fast 40 000 Tote gefordert. Einem eigenen Staat naher sind die
irakischen Kurden - sie leben seit dem ersten Golf krieg in einer von
den Alliierten garantierten Schutzzone, deren relative Stabilität
die USA schätzen. öhl
Khusistan
Khusistan ist die älteste der 30 J\Provinzen des Irans. Etwa 70
Prozent der drei Millionen Einwohner sind schiitische Araber. Sie
fühlen sich ethnisch und religiös mit den benachbarten
Irakern verbunden. Die Provinz birgt 90 Prozent der iranischen
Ölreserven, doch die Bewohner sind bitterarm. Radikale Gruppen
agitieren für die „Befreiung von persischer Besatzung",
gemäßigtere Bewegungen fordern den Schutz der arabischen
Kultur. Nach schweren Unruhen 2005 kam es zu Massenverhaftungen;
Teheran warf US-Amerikanern und Briten vor, Komplotte zum Sturz des
Regimes zu schmieden, cha
Kaschmir
Seit dem ersten Krieg zwischen Indien und Pakistan (1947 -1949) ist
Kaschmir aufgeteilt. Indien besetzte zwei Drittel im Südosten, den
heutigen Bundesstaat Jammu-Kaschmir, Pakistan den Nordwesten. China
kontrolliert seit 1962 ein Plateau im Osten. Mehr als zwei Drittel der
15 Millionen Bewohner sind Moslems, worauf Pakistan seinen Anspruch
begründet. Indien fürchtet bei einem Nachgeben um die
prekäre Balance seiner vielen Ethnien und Religionen. Die
friedliche Mehrheit der Bewohner will die Unabhängigkeit; einige
Unterstützer der Atommächte Indien und Pakistan sind
gewaltbereit. aud
Tamilen-Gebiete
Im Konflikt zwischen Tamilen und Singhalesen auf Sri Lanka sind seit
1983 mindestens 70000 Menschen getötet worden. Nach der
Unabhängigkeit 1948 nahm die singhalesischen Mehrheitsregierung
den Tamilen ihre von den Engländern verliehenen Privilegien. Die
tamilischen „Befreiungstiger" (ETTE) begannen für einen
unabhängigen Tamüenstaat zu kämpfen. Sie kontrollierten
zeitweise weite Teile des Nordens und Ostens. Indische Friedenstruppen
konnten 1987 nicht vermitteln, ein Waffenstillstand scheiterte 2006.
Seit 2007 sind die LTTE in der Defensive und verlegten sich auf
Terroranschläge. aud
Tibet
Tibet stand über Jahrhunderte unter chinesischer Oberhoheit. Als
China nach dem Sturz der letzten Dynastie geschwächt war,
erklärte sich Tibet 1913 für unab-hängig-ohne
internationale Anerkennung. 1950 marschierte Chinas Armee in dem
Himalajastaat ein, 1959 ging der Dalai Lama ins indische Exil. Das
geistliche Oberhaupt der Tibeter wirft China „kulturellen
Völkermord" vor. Er fordert Selbstbestimmung für die Tibeter
außer in militärischen und außenpolitischen
Angelegenheiten. Der Westen kritisiert zwar die
Menschenrechtsverletzungen durch Peking, akzeptiert aber, dass Tibet zu
China gehört. ebr
Süd-Philippinen
Auf den überwiegend katholischen Philippinen lebt im Süden
die muslimische Minderheit der Moro. Seit 40 Jahren kämpfen
islamische Rebellen für einen unabhängigen Staat - 120 000
Menschen starben bisher. Malaysische Soldaten überwachen eine 2004
verabredete Waffenruhe. Verhandelt wird über die
Vergrößerung der autonomen Moslem-Region. Im Süden
agieren mehrere bewaffnete Gruppen, darunter die Abu Sayyaf, nach
Ansicht der USA eine Terror-Organisation. Das US-Militär
unterstützt Manila gegen die Abu Sayyaf. US-Soldaten sind
offiziell zu Manövern vor Ort, nur so ist ihr Aufenthalt
legal. mkb