Zurueck zur Homepage
Aus der FR PLUS : Politik vom 14.03.2007, Seite 29
Demokratie ist mehr als vom Volk
gewählte Parlamente, sie ist eine täglich praktizierte,
konfliktreiche Lebensform. Und kein Selbstläufer. Sie muss
ständig neu erlernt werden. In Kindergärten, Schulen,
Jugendverbänden und in der Erwachsenenbildung. Einige Anregungen
zum fairen und toleranten Miteinander unter Gleichen.
Demokratie leben
Nicht nur eine Staatsform gilt es zu
wahren, sondern eine soziale Idee des verträglichen Miteinanders
neu zu entdecken
VON GERHARD HIMMELMANN
Es herrscht Unruhe in Deutschland. Das Gespenst der Verdrossenheit geht
um: an Politik, Politikern und Parteien. Man nennt es landläufig
„Politikverdrossenheit". Präziser müsste man wohl sagen, es
ist eine „Erwartungsverdrossenheit" Sehr viele Bürger erwarten
nichts Positives mehr von der Politik. Sie haben das Gefühl, in
Berlin würden ständig neue, unpopuläre, misslingende,
zerredete und die einfachen Bürger stets auf Neue belastende
Gesetze beschiossen. Es fehlt das Vertrauen, dass das alles, was da
beschlossen wird, gut gemeint sein könnte. Hartz IV ist dafür
nur ein Symbol.
-----------------------------------------
Der allgemeine Verdruss schlägt
bei den Bürgern bis in die Mittelschicht hinein durch
-----------------------------------------
Die wenigsten Bürger fühlen sich in ihren Ängsten und
Nöten noch verstanden und mitgenommen, wenn sie schon selbst kaum
direkte politische Einflussmöglichkeiten haben. Sinkendes
politisches Interesse sowie eine rasant abnehmende Wahlbeteiligung sind
die Folgen.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Demokratie zur
„Aktionärsdemokratie" der Private-Equity- oder Hedge-Fonds
geschrumpft ist, in der nur noch die großen Unternehmen und
Spitzenmanager von den Geschehnissen profitieren. Zumal dann, wenn sie
gleichzeitig Entlassungen ankündigen oder Lohnsenkungen
durchsetzen und dabei die Aktienkurse und die Managergehälter fast
sittenwidrig steigen.
Der allgemeine Verdruss schlägt bei den erwachsenen Bürgern
bis in die Mittelschicht hinein durch. Um wie viel mehr sind die Kinder
dieser Erwachsenen und die Jugendlichen davon in Mitleidenschaft
gezogen. Die Erziehungswirksamkeit vieler Eltern und Familien erodiert.
Ganze Hauptschulklassen sind ohne Ausbildungsplätze! Wenn die
Jugendlichen einen Ausbildungsplatz ergattert haben, dann
möglicherweise ohne anschließende Übernahme,
schließlich in „Warteschleifen" der Arbeitsagenturen, in
befristeter Zeitarbeit, Leiharbeit oder im Niedriglohnsektor
„beschäftigt". Betroffen ist die „Generation Praktikum". Noch mehr
betroffen sind die in den Bildungschancen Zurückgelassenen „mit
Migrationshintergrund".
Trotzdem: Immer noch ist es erstaunlich, dass bei aller Unsicherheit
und Erwartungsverdrossenheit die große Mehrheit der Bürger
die „Idee der Demokratie" sehr positiv einschätzt. Doch die
Politikverdrossenheit droht, in eine generalisierende
Demokratieverdrossenheit abzukippen.
Angesichts dieser Lage fragt sich, wer erklärt den Kindern,
Jugendlichen und den verdrossenen Erwachsenen die Politik und die
gewiss großen Probleme der Demokratie? Niemand? Oder immer
weniger?
In jüngster Zeit wurde die Politische Bildung in Deutschland unter
den Sparzwängen eklatant zurückgefahren. Das Land
Niedersachsen hat seine Landeszentrale für politische Bildung Ende
2005 sogar ganz dicht gemacht. Dagegen werden die Schulen geradezu
überschwemmt von Materialien interessierter
Wirtschaftsverbände. Das Fach Sozialkunde / Gemeinschaftskunde /
Politik wurde bereits in vielen Bundesländern in
„Politik-Wirtschaft" umbenannt. Eine neue Gesellschaftslehre „aus einer
Hand", aus der Hand der Unternehmer- und Arbeitgeberverbände? Die
Schulen haben schon genug damit zu tun, mit der neuen Generation der
„Ichlinge" und der individualistisch ausgerichteten „Ego-Taktiker"
zurechtzukommen. Soziale Integration ist heute mehr denn je gefragt.
Doch für das demokratischsoziale Lernen fühlt sich niemand so
recht verantwortlich.
Nach Pisa erscheint in Deutschland als das Hauptgeschäft der
Schule: der Fachunterricht und nicht die Qualität der Schulkultur,
in der Schülerinnen und Schüler gleiche Anerkennung erleben
und nahe an der Lebenswelt demokratische Erfahrung machen können.
Kognitives Lernen hat Vorrang.
Doch ist es erfreulich, dass sich seit einigen Jahren eine engagierte
Gegenbewegung in Form von vielfältigen Ansätzen des
Demokratie-Lernens beziehungsweise der Demokratiepädagogik
entwickelt hat. Quasi außerhalb der offiziellen Curricula haben
sich zahllose Initiativen, zivilgesellschaftschaftlische Stiftungen,
einzelne Schulen und einzelne Lehrkräfte auf den Weg gemacht, die
vielfältigsten Aspekte eines methodisch und inhaltlichbetont
demokratie- und handlungsbezogenen Lernens zu entwickeln, um die
Selbstwirksamkeit der Jugendlichen zu stärken und ihre Wert- und
Weltorientierung zu stabilisieren.
In einer Kultur der gegenseitigen Anerkennung wird „Schule in der
Demokratie" auch als „Schule der Demokratie" aufgefasst. Von Jena aus
hat sich zum Beispiel, schon langjährig erprobt, ein spezieller
Schulwettbewerb „Demokratisch Handeln" entwickelt und verbreitert.
--------------------------
DER AUTOR
• Professor
Gerhard Himmelmann,
Jahrgang 1941, hat
seit 1973 politische Wissenschaft gelehrt, zuletzt an der TU
Braunschweig. Er ist Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für
Politische Bildung in Niedersachsen und aktiver Kommunalpolitiker
(SPD). Zahlreiche Veröffentlichungen, die jüngsten: Leitbild
Demokratieerziehung (Schwalbach/Taunus 2006), Gerhard Himmelmann/ Dirk
Lange (Hrsg.): Demokratiekompetenz (Wiesbaden 2005) und
Demokratiebewusstsein {Wiesbaden 2007).
-------------------------
Vor zehn Tagen legte in Berlin das überaus erfolgreiche Programm
der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung „Demokratie
lernen & leben" sein Projektergebnis mit einem Abschlussbericht
„Qualitätsrahmen Demokratiepädagogik" vor. Im Jahre 2005 hat
sich aus dem BLK-Programm heraus eine eigene „Gesellschaft für
Demokratiepädagogik" gegründet. Viele andere Initiativen,
etwa von Reformschulen, und weitere zivilgesellschaftliche Projekte und
Wettbewerbe, die hier nicht einzeln aufgelistet werden können,
schließen sich an.
Diese Programme und Initiativen versuchen, zivilgesellschaftliches
Lernen, die Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung und die
Auseinandersetzung mit den Kraftstrategien von Rechtsextremismus,
Gewalt, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit unter
demokratiepädagogischer Prägung voranzutreiben. Aber viel zu
sehr bleiben diese Ansätze noch Basisinitiativen,
Einzelaktivitäten und Sonderveranstaltungen - mit viel Engagement,
doch ohne breite öffentliche Resonanz und immer unter dem Druck
der Finanzierung. Es fehlt der breite, gesellschaftliche und politische
Rückhalt.
Dagegen hat sich im internationalen Rahmen inzwischen ein weites Feld
des Demokratie-Lernens geöffnet. Es wird nachdrücklich der
„zivilgesellschaftliche Auftrag der Schule" hervorgehoben. Der
Europarat hat ein breites Programm „Democratic Citizen-ship Education"
beziehungsweise „Demo-cracy learning and living" aufgelegt. Die Unesco,
die EU und Eurydice, das 1980 gegründete Informationsnetz zum
Bildungswesen in Europa, zielen mit eigenen Konzepten und Programmen in
eine ähnliche Richtung. Die OECD will in einer nächsten
Pisa-Studie auch die demokratisch-sozialen Handlungskompetenzen von
Schülerinnen und Schülern überprüfen. Das Thema der
sozialen und demokratischen Handlungskompetenzen steht also
international auf der Tagesordnung. Auch in Deutschland?
Gewiss muss man in diesem Kontext auch klären, was in der
Demokratiepädagogik unter „Demokratie" verstanden werden kann.
Hier hat sich eine Interpretation herausgebildet, die Demokratie nicht
nur als spezifische „Herrschaftsform" mit ihren komplexen,
vielfältig verschachtelten Institutionen, Regeln und Traditionen
versteht. Vielmehr muss Demokratie auch als eine spezifische
„Gesellschaftsform" verstanden werden, die ihre eigenen zivilen Regeln
hat.
-----------------------------
Wartet nicht auf bessere Zeiten. Von
der Basis aus muss ein neuer Anfang gewagt werden.
----------------------------
An der Basis wiederum bedarf es einer spezifischen Interpretation der
Demokratie als sozialverträgliche und verantwortungsbewusste
„Lebensform", die die sozialen und demokratischen
Verhaltensdispositionen *' stärkt. Ohne sie kann, wie
vielfältigste Beispiele zeigen, eine dauerhaft stabile Demokratie
als Herrschaftsform nicht auskommen. Alle drei Ebenen gilt es in ihrer
Besonderheit zu berücksichtigen.
Viele Aussprüche zeigen: Demokratie ergibt sich nicht
naturwüchsig (Jürgen Habermas). Demokraten fallen nicht vom
Himmel (Theodor Eschenburg). Niemand wird als Demokrat geboren (Michael
Greven). Demokratie muss gelernt werden, um gelebt werden zukönnen
(Kurt Georg Fischer). Demokratie muss gelebt werden, um gelernt werden
zu können (Gisela Behrman).
Also machen wir uns doch auf den Weg, um eine Kultur der
wechselseitigen Anerkennung und Verantwortung in Schule und
Gesellschaft und die Schaffung von demokratischen Erfahrungsräumen
zu verbreitern. Gerade wenn die Zeiten schwierig sind oder erscheinen,
muss man manchmal von der Basis aus einen neuen Anfang machen. Wartet
nicht auf bessere Zeiten. Es ist jetzt Zeit, Demokratie als soziale
Idee des gemeinschaftsverträglichen Zusammenlebens neu zu
entdecken.