Zurueck zur Homepage
http://www.woz.ch/artikel/rss/13996.html
Estland
Teures Abstellgleis
Von Reinhard Wolff
Bevor der Verkehr ganz zusammenbricht,
kauft der Staat die Bahn zurück. Aber hat er was daraus gelernt?
Auf der Hauptstädteverbindung zwischen dem estnischen Tallinn und
dem lettischen Riga fahren keine Personenzüge mehr. Auf dem
Trassee ist oft nur noch eine Geschwindigkeit von vierzig
Stundenkilometern möglich. Auch zwischen anderen Städten
reist man mit dem Bus schneller, billiger und mit besseren
Verbindungen. Estlands Bahn ist heruntergewirtschaftet, und der Grund
dafür ist die Privatisierung. Schon vor Jahren hatte die
Tageszeitung «Postimees» geschrieben: «Wenn das Geld
den Zugverkehr bestimmt, landet er auf dem Abstellgleis.»
Estlands Privatisierungskommission hatte in den neunziger Jahren stolz
verkündet, die Zerschlagung der Eisenbahn sei Teil des
«radikalsten jemals gemachten Versuchs, ein staatliches Monopol
zu brechen». Die baltische Sektion der Staatsbahn der ehemaligen
Sowjetunion war in Häppchen aufgeteilt und an Privatfirmen aus den
USA, Britannien und Estland verkauft worden. Der Güterzugverkehr
und grosse Teile der Netzinfrastruktur fielen an die Gesellschaft Eesti
Raudtee. Dass neben dem Zugbetrieb auch das Schienennetz aus der
nationalen Verantwortung an Privatinteressen übertragen wurde, war
von Anfang an kritisiert worden: Zumindest das Netz müsse unter
staatlicher Kontrolle bleiben. Die BefürworterInnen der
Privatisierung entgegneten, dass der Staat ja weiterhin ein Drittel der
Anteile von Eesti Raudtee und damit Einfluss behalten werde.
Tatsächlich hatte aber die private Zweidritteleigentümerin
Baltic Rail Services (BRS) das alleinige Sagen, eine Gesellschaft von
hauptsächlich US-amerikanischen InvestorInnen. Und sie lieferte
praktisch vom ersten Tag an negative Schlagzeilen. Mit Meldungen
über Sicherheitsprobleme, weil das Schienennetz mit ausrangierten
schweren Dieselloks aus den USA ruiniert wurde und weil die meisten der
mit BRS vereinbarten Investitionen nicht getätigt wurden.
Als die Regierung in Tallinn sich das nicht länger bieten lassen
wollte und mit empfindlichen Konventionalstrafen drohte, bot die BRS
den Verkauf ihrer Anteile an. Erste Verhandlungen über eine
Wiederverstaatlichung scheiterten im Februar an unvereinbaren
Preisvorstellungen. Die BRS versuchte daraufhin den Verkauf an
russische und deutsche InteressentInnen, doch ohne Erfolg. Die
Gesellschaft hatte im August einen Plan für die kommenden Jahre
mit einem beinahe vollständigen Investitionsstopp vorgelegt,
aufgrund dessen der baldige Zusammenbruch des Bahnverkehrs
vorherzusehen war. Daraufhin zog die Regierung in Tallinn die
Notbremse: «Wir können nicht mehr länger herumsitzen
und zusehen», sagte Wirtschaftsminister Edgar Savisaar. Vom
Parlament wurde ein Nachtragshaushalt beschlossen, in dem nun über
280 Millionen Franken für eine Wiederverstaatlichung noch in
diesem Jahr reserviert sind. Das ist zweieinhalb Mal so viel Geld, wie
die BRS vor fünf Jahren bezahlt hatte. Für die InvestorInnen
bei BRS ein glänzendes Geschäft, denn sie haben nach
Einschätzung von InsiderInnen Eesti Raudtee nicht nur
ausgeplündert, sondern auch als Sicherheit für günstige
Bankkredite benutzt. Übrig geblieben sei eine wertlose
Gesellschaft, die all ihrer Aktivposten beraubt worden sei.
Aus dem teuren Abenteuer hat man in Tallinn offenbar zumindest eines
gelernt. Die Gleis- und Signalanlagen sollen auch im Falle einer neuen
Privatisierung Staatseigentum bleiben. Für den Verkehrsbetrieb
sucht die Regierung hingegen neue private AkteurInnen. Estnische Medien
nennen neben russischen und estnischen InvestorInnen auch die Deutsche
Bahn mit ihrer Güterzugfirma Railion als Kaufinteressentin.
Railion ist bereits in mehreren westeuropäischen Ländern
aktiv (darunter in der Schweiz) und könnte durchaus ein Interesse
an einer Expansion nach Osteuropa haben. Eesti Raudtee ist vor allem
wegen des russischen Transitverkehrs zu Estlands Ostseehäfen
interessant. Zudem gibt es Pläne für eine
Güterzugverbindung von der Ostsee zum Pazifischen Ozean und
für einen Containerverkehr von Nordeuropa nach China. Die Bahnen
und Häfen des Baltikums könnten dabei eine zentrale Rolle
spielen.
WOZ vom 19.10.2006