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Süddeutsche Zeitung vom Freitag, den 28.07.2008, MEINUNG - Seite 4
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Von Heribert Prantl
Das Urteil ist spektakulär, ja sensationell. Es verändert die Debatte über die
Privatisierung von Staatsaufgaben in Deutschland. Nach diesem Urteil kann die
Flugsicherung nicht mehr kapitalisiert werden. Nach diesem Urteil kann man sich
auch schwer vorstellen, dass die Deutsche Bahn an die Börse geht. Dieses Urteil
besagt nämlich: Der Staat kann sich aus seiner Verantwortung für hoheitliche
Aufgaben nicht hinausschleichen. Er kann nicht einfach seine Kernaufgaben, um
Geld in die leeren Kassen zu schaufeln, an private Unternehmen verkaufen und
sich damit von jeglicher Haftung freizeichnen. Der Staat kann zwar die
Organisation seiner Unternehmen privatisieren, also private Organisationsformen
wählen; er kann aber nicht die Verantwortung privatisieren. Er kann, und das
ist Kern des Urteils, nicht einfach verkaufen, Geld kassieren, seine Hände in
Unschuld waschen und auf die Haftung des privaten Käufers verweisen.
Wenn eine Katastrophe passiert, dann kann es passieren, dass der Staat für Fehler
und Schlampereien der Privatfirma einstellen muss, gebenenfalls mit
astronomischen Kostenfolgen - so wie im Fall der Flugzeugkatastrophe von 2002;
Wegen Versagens der schweizerischen Firma Skyguide, die im Südwesten
Deutschlands die Flugsicherung übernommen hat, stießen zwei Flugzeuge über
Überlingen zusammen; 71 Menschen starben. Das Landgericht Konstanz urteilte:
Der deutsche Staat muss haften. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig, aber
schon der Spruch der ersten Instanz ist ein Donnerschlag gegen staatliche
Privatisierungssucht - von der Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß seit
langem sagt, dass sie für den Staat sehr teuer werden kann.
Die Richter in Konstanz rügten erstens, dass es keine Rechtsgrundlage, nämlich
keinen völkerrechtlichen Vertrag, für die Übertragung der Luftsicherung an ein
schweizerisches Unternehmen gibt. Das lässt sich nachholen. Die Übertragung
dieser hoheitlichen Aufgabe ins
Private ist auch der Sinn eines Gesetzes, bei dem der Bundespräsident derzeit
zögert zu unterschreiben: Horst Köhler hat verfassungsrechtliche Bedenken gegen
das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung geltend gemacht; es sieht die
Privatkapitalisierung der Flugsicherung zu 75,1 Prozent vor. In diesem
Zusammenhang wird der zweite Teil des Landge-richts-Urteils zum Menetekel:
Der Staat muss für Fehler der privaten Flugsiche-rungsfirma einstehen. Er soll
die Aufgaben,, die ihm das Grundgesetz zuweist, nicht abschütteln können. Er
muss dafür sorgen, gleich in welcher Organisationsform, dass die Sicherheit in
der Luft (und auf den Schienen) gewährleistet ist.
Nach dem Grundgesetz muss die Verwaltung des Luftverkehrs „in
bundeseigener Verwaltung geführt" werden. Das „Ob" steht nicht
zur Disposition, nur das „Wie". Radikalprivatisierer stürzen den
Staat in unabsehbare Haftungsfolgen. Privatisierungsfreudige Minister sollten
daher bedenken: Sie sollen Schaden vom Volk wenden, nicht Schaden stiften.