Gescannter Auszug aus
"express" Zeitung für sozialistische Betriebs- und
Gewerkschaftsarbeit Nr. 12/2007, 45. Jahrgang - Express/AFP e.V: - www.labouret.de/express
TEl. (069) 679984 - ISSN0343-5121 - Preis 3,50 Euro
»Wozu noch Gewerkschaften?«, fragt Oskar Negt in einer Streitschrift.» (1)
Angesichts der täglichen Angriffe auf soziale Errungenschaften sind die
Gewerkschaften als wirkliche Kampforganisationen für die arbeitenden Menschen
notwendiger denn je«, antworteten Mitglieder per Flugblatt vor dem Kongress in
Leipzig. Waren die Tage vom 4.-10. November ein Aufbruch? Und wohin? Das
Selbstbild der IG Metall ist Stärke und Harmonie. Die Vorstandswahlen liefen
über die Bühne, inhaltliche Konflikte wurden selten angesprochen. Mit
Kongress-Regie und den Delegierten hat das zu tun, durchschnittlich 48 Jahre
alt, zu 75 Prozent männlich, 20 Prozent Angestellte der IG Metall, eine
arbeitslose Delegierte. Selten spürte man, dass Delegierte eine Basis
vertraten, die das neue Führungsduo Huber/Wetzel so nicht dachten. Wenn Hans
Köbrich aus Berlin, Udo Meyer aus Peine, Uli Hellmann aus Wolfsburg oder
bekannte Linke wie Otto König, Klaus Ernst redeten, waren Kritik, Probleme und
Widersprüche zu hören, die bei der Führung jedoch ohne Resonanz blieben. Also
wurde über Fehler nicht gesprochen, auch nicht über den Riss, der angesichts
der VW-Privatisierung durch die IG Metall geht. Unternehmer bringen Betriebsräte
gegeneinander in Stellung; das überrascht nicht. Überraschend ist, dass
Gewerkschaftsvertreter in Aufsichtsräten das nicht verhindern, obwohl sie es
doch könnten. Der Vermeidung jeglicher Fehlerdebatte ist auch geschuldet, dass
über das ehemalige Vorstandsmitglied Volkert, angeklagter ExBetriebsrat von VW,
kein Wort verloren wurde, im Gegensatz zu den Lobhudeleien, die es für ihn und
Hartz bis 5 nach 12 gab. Gewerkschaften müssen der Korrumpierung der
Solidarität laut widersprechen, sonst untergraben sie ihre Grundlage. Fehler
nicht aufzuarbeiten bedeutet, daraus nicht zu lernen. Der Abschluss von
Pforzheim, die Verbetrieblichung der Tarifpolitik wurden zwar kritisiert,
mehrheitlich jedoch als unumkehrbar hingenommen und von hauptamtlichen
Delegierten wie Heinz Pfeffer gelobt. Solidarität mit den streikenden
Lokführern unterblieb. Zum demonstrierten Selbstbewusstsein gehört, dass die
Mitgliederentwicklung - minus zehn Prozent in vier Jahren — beschönigt,
die Überalterung und Vermännlichung nicht thematisiert wurden.
Es gab die Chance, die IG Metall offener für Menschen zu machen, die hohe
Ansprüche an demokratische Teilhabe stellen. Diesbezügliche Satzungsanträge
wurden jedoch abgelehnt: Es wurde keine Quote für die Jugend beschlossen, dem
Erwerbslosenausschuss wurde kein Antragsrccht eingeräumt. Die Bezirksleiter,
zuständig u.a. für Tarifverhandlungen, werden weiter vom Vorstand eingesetzt
statt gewählt. Der Raum für Debatten war klein, für Repräsentation und
Schaufensterreden groß. Auf Unverständnis stieß, dass der Vorsitzende erst nach
der Wahl sein »Zukunftsreferat« hielt, zu dem es keine separate Debatte gab.
Die Rede war voller Stakkato-Stehsätze: »Die IG Metall ist und bleibt die
Gewerkschaft für alle! Uni diesen Anspruch verwirklichen zu können, brauchen
wir Mut zur Vielfalt! Dann erhalten wir die Kraft zur Einheit!«
Es ist zu reden, worüber Huber nicht geredet hat: Ohne die Kriege zu nennen, an
denen Deutschland mit den USA beteiligt ist, kritisierte er »ungebremsten
Kapitalismus« und prognostizierte »Kriege und fragile Nationalstaaten« —
wiederum ohne zu erläutern, was er sich statt »fragiler Nationalstaaten«
wünscht. Es war die Chance vertan, die IG Metall als Teil der Bewegung für
Frieden zu verankern.
Bezogen auf Neonazis und deren antidemokratische Hetze forderte Huber »Null
Toleranz«, zu Schäubles antidemokratisch-hysterischem Amoklauf äußerte er sich
nicht.
Die Einheitsgewerkschaft brachte er, Bezug nehmend auf Otto Brenner, problemlos
mit der SPD in Verbindung. Die Veränderungen im parlamentarischen Raum durch
die Gründung der Linkspartei und die diesbezüglichen Wurzeln wurden ignoriert,
erweiterte Möglichkeiten nicht ausgelotet.
Kurz redete Huber über internationale Gewerkschaftsarbeit: Die Globalisierung
und daraus entstandene Anforderungen seien Standortprobleme, die Vernutzung des
Planeten, von Mensch und Natur durch die Multis wurde angetippt. Ausführlicher
als das Bemühen um Einhaltung internationalen Rechts (Koalitionsfreiheit,
Tariffreiheit, Verbot von Kinderarbeit) durch Rahmenabkommen mit den Multis
wurde Europa als Binnenmarkt behandelt, in dem gleiche Bedingungen hergestellt
werden sollen. Europäische Metall-Gewerkschaften haben über fünfzehn Jahre
gebraucht, um schließlich doch keine koordinierte Tarifpolitik zu
schaffen. Von Leipzig ging kein Signal aus, diese Agonie zu überwinden - der
erste Verstoß gegen die Regel (kein Tarifabschluss unterhalb von
Produktivitätssteigerung und Inflationsrate) kam bereits in den 1990er Jahren
von der IG Metall. Gewerkschaftsjugend und gewerkschaftliche Bildungsarbeit
waren für Huber nicht der Rede wert. Ein Zukunftsreferat, in dem nicht viel
Zukunft steckte.
Die kapitalistische Krise ist beschreibbar als Uberakkumulation, als
Unterkonsumtion, als ökologische Krise, als sozialer Absturz großer Teile der
Bevölkerung etc. Der Gewerkschaftstag hätte Antworten auf Ursachen und
Wirkungen diskutieren müssen. Gelegenheit dazu bot sich z.B. als Beschäftigte
der bedrohten Karmann-Werke um Solidarität baten. Keine Rede bei Huber von
Marktsättigung, von unnützen und ökologisch nicht vertretbaren Produkten, von
endlichen fossilen Energieressourcen, von Alternativen zur bisherigen
Produktionsweise, kein Wort zur Arbeitszeitverkürzung oder sozialem Aufstand
gegen die Kahlschlagpolitik der Unternehmer, auch von Umsteuern keine Rede. Nur
ein Appell an Autoindustrie und Betriebsräte: »Auch wenn wir allein nicht
entscheiden können, ob Derivate oder andere Produktionsmöglichkeiten nach
Osnabrück und Rheine gebracht werden können, müssen wir die Aufforderung an unsere
Autohersteller sehr ernst nehmen, alles zu tun, damit Karmann nicht stirbt.
(...) Es ist für den Industriestandort Deutschland und für die IG Metall
wichtig, dass wir darauf achten und uns sorgen und dafür streiten, dass diese
Qualifikationen nicht kaputt gehen.«
Aufstoßend die Erklärung zur Arbeitszeit. Applaus für die Feststellung, es
bedürfe einer neuen Arbeitszeitdebatte; danach die kalte Dusche, indem die
Defensive zum Programm wird: »Wir können die Arbeitszeitfrage heute nur mit
differenzierten Antworten losen. Weil die Menschen in ihren Arbeitssituationen
und Bedürfnissen nun mal unterschiedlich sind!« Als sei dies neu, reklamierte
Huber eine »ehrliche Debatte«, ausgehend von einer realen Arbeitszeit von 39
Stunden. Individuelle und differenzierte Arbeitszeiten sind seit je das
Argument der Arbeitgeber gegen kürzere Arbeitszeiten. Auch Angestellte,
Konstrukteurinnen, Forscherinnen unterliegen schärfster Rationalisierung. Egal,
wie individuell differenziert die jeweilige Arbeitszeit ist, sie muss insgesamt
kürzer werden, damit mehr Menschen an Erwerbsarbeit beteiligt sind, mehr Zeit
für Reproduktion, für demokratische und kulturelle Teilhabe, für Bildung
möglich ist. Durch radikale Arbeitszeitverkürzung kann der Widerspruch
aufgehoben werden, dass einerseits Menschen an Arbeitsüberlastung erkranken,
während andere an Erwerbslosigkeit und Existenzangst verzweifeln. Das Argument
zur Differenzierung ist darüber hinaus unglaubwürdig, weil, wie Witich Rossmann
und andere kritisierten, die Angestellten im Geschäftsbericht so wenig eine
Rolle spielten wie etwa Studierende.
Eine verpasste Chance war auch die Debatte zum Streikrecht, So wurde zwar
abermals die Abschaffung des Artikel 146 SGB III (alt § 116 AfG)2 von Huber
gefordert, doch das ist weder neu noch offensiv. Dagegen wurden
Argumentationen, die darauf zielten, das politische Streikrecht durchzusetzen,
um z.B. in existenziellen Fragen wie Lebensarbeitszeit oder Sozialpflichtigkeit
des Eigentums handlungsfähig zu werden, ignoriert. In diesen Zusammenhang würde
auch eine kritische Debatte über die Rolle Deutschlands in der EU sowie die
ständige Einschränkung des Streikrechtes gehören. Dafür, Letzteres zum Konflikt
zu erklären, gäbe es - nach der notwendigen Kampagnenarbeit -durchaus eine
Mehrheit in der Bevölkerung, genauso, wie es diese gibt gegen die Rente mit 67
und für den Lokführerstreik. Wir können uns für das politische Streikrecht auf
das Grundgesetz, auf unsere Geschichte und die ILO-Konventionen berufen und so
in die Offensive kommen. Mit Verweis auf EU-Verfassung und EU-Sozialcharta -
die eine nicht in Kraft, die andere nicht einklagbar - wurden
die Anträge abgelehnt und die Debatte beendet. Den politischen Anspruch
formulierte u.a. Emanuel Pantelakis aus Neuss; »Wir haben die gleiche Zukunft.
Gerechtigkeit für die Armen dieser Welt. Dafür müssen wir doch kämpfen. Da kann
ich nicht wie Zwickel sagen: >Nein, die CGT in Frankreich und die
Gewerkschafter in Italien sind mir zu links. Wenn die gemäßigter wären, hätte
ich mit denen zusammengearbeitet. Dann hätten wir die Globalisierung ein
bisschen gebremst. Oder wir hätten dafür gesorgt, dass die Globalisierung auch
den Menschen gut tut - und nicht bloß dem Kapital.« Nein, die waren dem zu
links. Das reicht heute nicht. Wir müssen kämpfen.«
Ein schlagendes Argument in gewerkschaftlichen Debatten ist das »ungünstige
Kräfteverhältnis«, als sei es unabhängig von uns, Abschlüsse wie Pforzheim,
Daimler, Siemens, Opel und VW zeigen in Richtung Standort und Korporatismus;
sie tragen zum »ungünstigen Kräfteverhältnis« bei. Als handelnde Subjekte sind
wir nicht Opfer der Verhältnisse, wir gestalten sie mit und sind - um das
Gegenwort zu benutzen - auch Täter. Gewerkschaften haben mit Unternehmen
vereinbart, dass es für gleiche Tätigkeit geringere Entlohnung bei längerer
Arbeitszeit gibt. Wir können uns der daraus erwachsenden Konkurrenz, den
betrieblichen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen
nicht entziehen. Konkurrenz ist das Gegenteil von Solidarität. Wenn die
Einheitsgewerkschaft in Deutschland in Frage gestellt wird, dann wegen solch
ausgrenzender Politik; Geschlossenheit kann auch Exklusion bedeuten.
Einheitsgewerkschaft muss sozial und politisch gelebt wenden, sonst verkommt
sie zur leeren Hülle. Der Beschluss, die Leiharbeiter künftig nicht mehr
schlechter zu stellen, geht hier in die richtige Richtung. Doch es bleibt die
Frage nach Alternativen zu Kostensenkung, Arbeitszeitverlängerung und
Personalabbau. Die welt- und betriebswirtschaftlichen Prämissen (Maximalprofit,
Konkurrenz, Überkapazitäten) lassen sich auf absehbare Zeit nicht umkehren. Die
Alternative zu Arbeitszeitverlängerung und Personalabbau bei rasant steigernder
Produktivität ist, Erwerbsarbeitszeit zu verkürzen und gerecht zu verteilen.
Dafür müssen wir den betriebswirtschaftlichen Rahmen verlassen, eine konkrete
Utopie, eine Kampagne z.B. für die 30-Stunden-Woche mit diversen
Arbeitszeitmodellen entwickeln. konfliktbereit zu sein, die vielen
betrieblichen Aktionen zu bündeln, das ist keine Aufgabe eines Teiles der Gewerkschaft,
sondern von Gewerkschaften insgesamt und ihren Bündnispartnern. Durch Kampagnen
und Aktionen könnten viele dafür gewonnen werden, das abnehmende Volumen an
Erwerbsarbeit fair zu teilen. Stattdessen wird derzeit in vielen Betrieben die
Arbeitszeit verlängert -bei gleichzeitiger Reallohnsenkung und etwas späterer
Betriebsschließung. Nicht zuletzt infolge der allgegenwärtigen neoliberalen
Gehirnwäsche schlucken Beschäftigte den ökonomischen und sozialen Selbstmord
als Schicksal, hoffend, dass sie als letzte erwischt werden oder im Lotto
gewinnen. Insofern geht es auch darum, täglich aufs Neue die neoliberalen
Argumente zu widerlegen. Erforderlich ist ein Denken ohne Geländer, Nach- und
Vor-Denken über Alternativen ist für Gewerkschaften und Wissenschaft eine
lohnende Herausforderung. Es bleibt aktuell, über andere Produkte,
Produktionsweise und Produktionsverhältnisse zu beraten und dafür zu kämpfen.
In der IG Metall gibt es, trotz Leipziger Harmonie, unterschiedliche
Positionen. Drei Aktionen wurden beschlossen: Das Projekt »Gute Arbeit« wird
weiter geführt, die Aktionen gegen die Rente mit 67 sollen in einer Kampagne
zur Verlängerung der Altersteilzeit münden, und Leiharbeiter sollen mit
Stammbelegschaften gleichgestellt werden.
Ein Aufbruch gegen neoliberale Hegemonie und eine Mobilisierung für
grundlegende Reformen ist das nicht - aber beides ist als Möglichkeit erhalten.
Anmerkungen:
(1) Oskar Negt: » Wozu noch Gewerkschaften?«, Steidl-Verlag, Göttingen
2005
(2) Dieser Artikel regelt den Bezug von Arbeitslosengeld bei Arbeitskämpfen:
Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 1986 wird indirekt von einem Arbeitskampf
betroffenen Arbeitnehmerinnen bei »kalten Aussperrungen " kein
Kurzarbeitergeld mehr gezahlt.