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Auszug aus express, Zeitung für sozialistischeB Betriebs- und
Gewerkschaftsarbeit Nr. 8/2007, 45. Jahrgang, www.labournet.de/express
Tel.Nr. 069/679984, ISSN 0343-5121 (gescannt)
In der Zeit vom 29. September
bis 6. Oktober 2007 wird der zweite ver.di-Bundeskongress in Leipzig
stattfinden. Er steht unter dem Motto: »Gerechtigkeit Würde, Solidarität«. Hugo
Claus hat sich für uns verschiedene Themenbereiche aus den rund l 600 Anträgen
genauer angesehen und gibt einen ersten Überblick, um was es geht.
Ein zentrales Thema auf dem Gewerkschaftstag wird der Umgang mit den Entwürfen
für ein ver.di-Grundsatzprogramm sein. Nach zwei Jahren Programmdebatte hat
sich nämlich zum einen gezeigt, dass dieses Thema immer noch nicht wirklich in
der Organisation »angekommen« ist, und zum anderen, dass in der Sache noch
erheblicher Klärungsbedarf besteht, weil die Positionen verschiedener
Strömungen und Fachbereiche zu berücksichtigen sind.
Der Gewerkschaftsrat hat daher einen Antrag »Programmdebatte vertiefen und beim
Bundeskongress 2011 zum Abschluss bringen« (P 001) gestellt. »So soll
gewährleistet werden, dass tatsächlich alle Ebenen, Personengruppen,
Fachbereiche und Gremien die Debatte vertiefen und ihre Positionen
ausformulieren können. Ob die Programmdebatte verlängert wird, entscheidet der
Bundeskongress 2007.« (Vgl. ver.di News, 13/2007)
In dem entsprechenden Antrag des Gewerkschaftsrates heißt es u.a., der Kongress
möge den Vorständen und Gliederungen konkrete Aufträge erteilen, zum Beispiel:
* »Der Bundesvorstand soll alle Dokumente für die weitere Debatte in Form eines
Readers und im Internet zur Verfügung stellen.
* Alle bezirklichen Gremien sollen sich bis Ende 2008 mit den vorliegenden
Positionen und Alternativen beschäftigen — unter Einbeziehung möglichst
vieler Mitglieder.
* Bis Ende 2009 sollen die Landesbezirke und Fachbereiche Diskussionsangebote
zum Programm machen. Die Fachbereiche sollen ebenfalls bis Ende 2009 ihre
Positionen und Forderungen an das Programm formulieren und dokumentieren.
* Die Bildungsstätten sollen ihre bisherigen Aktivitäten zum Programm
(Dokumentation des Diskussionsstandes, Angebote zur Information, zum Austausch
und zur Diskussion) verbreitern und die Fachbereiche und Ebenen bei ihren
Vorhaben unterstüten.
* Die Bundesebene soll alle Diskussionsbeiträge von Ebenen und Gremien zeitnah
in einer Internetplattform dokumentieren, jährlich eine übergreifende
bundesweite Konferenz zur Vernetzung der Programmdiskussion veranstalten und
dokumentieren, Arbeitskreise zur themenstrangbezogenen Konkretisierung und
Abstimmung zwischen Fachbereichen und Ebenen anbieten und bis zum Beginn der Vorkonferenzen
des nächsten Bundeskongresses aus den Positionierungen und Rückmeldungen der
Landesbezirke einen konsensfähigen Entwurf entwickeln.«
Abgesehen von der Frage, welche Bedeutung solche Programme für die
gewerkschaftspolitische Praxis überhaupt haben, scheint diese beabsichtigte
Vertagung für die künftige Entwicklung von ver.di eher zweitrangig zu sein.
Auch ohne Grundsatzprogramm wird ver.di in der Öffentlichkeit als
gesellschaftspolitischer Faktor wahrgenommen. Und die Delegierten auf dem Gewerkschaftskongress
werden auch ohne Programm über wichtige gesellschafts-und
organisationspolitische Fragen streiten.
Die Antragslage
Bei einer ersten Durchsicht der Anträge fällt zunächst das große Themenspektrum
auf. Daher kann es hier nur einen groben Überblick mit einigen Beispiele geben:
Unter den Anträgen zur Gewerkschafts- und Gesellschaftspolitik finden sich
nicht nur allgemeine Entschließungen zur »Zukunft von ver.di« oder zum Thema
»Soziale Rahmenbedingungen durchsetzen - Sozialstaat retten, sondern auch
konkretere Anträge zum kritischen Umgang mit der Bertelsmann-Stiftung, zum
Thema »ver.di-Kampagne für Menschenwürde im Job beim Discounter Lidl
fortführen«, zur Verteidigung demokratischer Grundrechte, zur
Förderalisrnusreforn, zum »Politischen Streik« oder zum Kampf gegen
Rechtsextremismus. Außerdem wird gefordert, die Medienpräsenz von ver.di zu
verbessern und das Konzept der Mitgliederzeitung ver.di-publik« zu verändern.
Im Mittelpunkt des Antragsschwerpunktes Beschäftigung und Arbeitsmarktpolitik
steht die Beschäftigungssicherung. So wird z.B. im Antrag B 004
gefordert, die Sicherung der Beschäftigung im privaten und öffentlichen
Dienstleistungsbereich in den Mittelpunkt zu stellen und dabei die Schwerpunkte
Gesundheitsschutz, Aus- und Weiterbildung sowie kollektive und individuelle
Arbeitszeitverkürzung zu setzen. Weitere Antragsblöcke gibt es zu den
»Arbeitsgelegenheiten« gem. § 16,3 SGB II (»1-Euro-Jobs«), zum Regelsatz
beim Arbeitsloengeld II, zur »Grundsicherung« und zum Mindestlohn.
Bei der Sozial- und Gesundheitspolitik steht die Alterssicherung mit mehr als
30 Anträgen im Vordergrund, einschließlich der Forderung, das Rentenalter nicht
anzuheben (Antrag 004). Interessant ist der Antrag Q 005, der am Beispiel der
Sparkassen betriebliche Mitbestimmung bzw. neue Mitbestimmungsstrukturen in
gemischten Konzernen (öffentlich-rechtlich und privat-rechtlich) fordert. Dies
verweist auf eine grundlegende Herausforderung für die »Vereinte
Dienstleistungsgewerkschaft« durch. veränderte Unternehmens- und
Branchenstrukturen.
In der Tarifpolitik nehmen (z.T. kontroverse) Anträge zur Arbeitszeitpolitik
bzw. Arbeitszeitverkürzung, zur Tarifpolitik im öffentlichen Dienst (z.B.: R
074 - Nachbesserung TVÖD; R 075 -Tarifstrategie oder R 124 - Organisatorische
Voraussetzungen für die Handhabung des TVÖD und des TV-L schaffen) und zum
Mindestlohn den meisten Raum ein.
Beim Antragsschwerpunkt Politik des Öffentlichen Dienstes lautet der Leitantrag
E 001 des Gewerkschaftsrats »Aufgaben der Daseinsvorsorge müssen in
öffentlicher Verantwortung bleiben!« Das klingt gut. Auch den kritischen
Ausführungen zu »Öffentlich-privaten Partnerschaften« (ÖPP bzw. auf englisch:
PPP) als einer verbreiteten. Spielart der Privatisierung ist zuzustimmen.
Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass
Symptomatisch auch für andere Politikfelder ist allerdings auch an diesem
Beispiel, welche Schlussfolgerungen aus einer kritischen Bewertung gezogen
werden. Sollen ÖPP-Projekte abgelehnt werden (vgl. Anträge E 012ff.) oder
nicht? Im Antrag 001 des Gewerkschaftsrats wird lediglich die politische
Präferenz für ÖPP-Projekte kritisiert. Die Schlussfolgerung lautet dort: »Bei
Entscheidungen über die Art der Erledigung öffentlicher Aufgaben sind stets
Kriterien anzulegen, die den besonderen Charakteristika und Funktionen sowie
der Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen und Einrichtungen in einer
demokratischen und sozialstaatlichen Gesellschaft, die ihren Bürgerinnen und
Bürgern vor allem Teilhabe und Chancengerechtigkeit geben soll, entsprechen.
(...) ver.di wird auf allen Entscheidungsebenen ... der faktischen oder
gesetzlichen Privilegierung von Privatisierung oder Teilprivatisierung
(OPP/PPP) ebenso entgegen treten, wie Versuchen neue Subventionstatbestände und
Steuererleichterungen für so genannte OPP zu schaffen.«
Klare Positionsbestimmungen sehen anders aus. Insofern ist damit zu rechnen,
dass solche konkreten Widersprüche die programmatische und die praktische
Diskussion in ver.di prägen werden - auch nach dem Gewerkschaftskongress.
Vom Nebeneinander zum Miteinander?
Angesichts der rückläufigen Mitglieder- und Beitragsentwicklung werden bei der
Antragsbe-fassung »Orientierungen zur Organisationspolitik« (H 001} sowie die
Themenblöcke »Finanzen - Leistungen - Beitragsregelungen« (76 Anträge) und
»Personal« (45 Anträge) eine wesentliche Rolle spielen. Die komplexe
organisatorische Gemengelage lässt sich dabei beispielhaft an der
Zusammensetzung des Bundesvorstands verdeutlichen. In § 42 der ver.di-Satzung
heißt es unter der Ziffer 4: »Der Bundesvorstand besteht aus dem/der
Vorsitzenden, den Leiter/innen der Fachbereiche und bis zu fünf weiteren
Mitgliedern, deren Zahl vom Bundeskongress auf Vorschlag des Gewerkschaftsrats
bestimmt wird.« Bei 13 Fachbereichen ergeben sich daraus bis zu 19 Mitglieder
des Bundesvorstands. Der ver.di-Kongress 2003 hatte die Reduzierung der
Bundesvorstandsmitglieder auf elf beschlossen.
In der Zwischenzeit gab es
jedoch keine Zusammenlegung von Fachbereichen. Lediglich die Fachbereiche
Bund/Länder und Gemeinden haben ein gemeinsames Vorstandsmitglied nominiert.
Gleichzeitig gilt, dass in den Gremien »Frauen mindestens entsprechend ihrem
Anteil an der jeweils repräsentierten Mitgliedschaft vertreten sein müssen« (§
20 der ver.di-Satzung). Diese Vorgabe haben die Fachbereiche nicht erfüllt, da
sie überproportional männliche Kollegen zu Bundesfachbereichsiei-tern gewählt
haben. Daher wird es nicht 13 Bundesvorstandsmitglieder geben müssen, sondern
14, um die »Quote« zu erfüllen.
Angesichts knapper Kassen erscheint das widersinnig. Dieses Beispiel ist ein
Indiz für das Nebeneinander in der Matrixorganisation ver.di. Zwischen der
Autonomie der Fachbereiche und der Gesamtverantwortung auf den jeweiligen
Ebenen klafft eine Lücke. Das zeigt sich auch an der so genannten
Budgetierungs-richtlinie: Der »Ebene« und den Fachbereichen werden zwar nach
einem komplizierten Schlüssel jeweils eigene finanzielle Mittel zugewiesen.
Doch dieses Instrument wird immer Gegenstand von internen Konflikten sein,
solange es nicht gelingt, von einem Nebeneinander zu einem solidarischen
Miteinander in ver.di zu kommen. Das scheint nach wie vor die zentrale
organisationspolitische Herausforderung der »Vereinten
Dienstleitungsgewerkschaft« zu sein.