Auszug (Seiten 13 und 14) aus "express" , Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 12/2009 47.Jahrgang (gescannt)

 

Vertrauensleute des Stuttgarter Klinikums dokumentieren es in ihrer Betriebszeitung:  

 

Öffentliches Gut oder Ware?

 

Gesundheitspolitik der neuen Bundesregierung auf dem Prüfstand

 

Auch wenn es Konkretes zur Gesundheitsreform der neuen Regierung erst nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 geben wird, kann man aus dem Koalitionsvertrag jetzt schon genügend Informationen herauslesen, wo die Reise hingehen soll. Wir sind es gewohnt, dass man Ärztedeutsch übersetzen muss. Deshalb dokumentieren wir hier einen Artikel aus der Betriebszeitung des Stuttgarter Klinikums, in dem die Kolleginnen Übersetzungsarbeit zu Dr. Rösters Empfehlungen versuchen.

 

Die neue Regierung hat ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Doch weil die Gesundheitsversorgung ein sensibles Thema ist, wird Konkretes wohl erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 benannt. Schließlich geht es da um den Erhalt der schwarz-gelben Bundesratsmehrheit, will sagen um ein ungestörtes Durchregieren.

 

Die grundsätzlichen Alternativen in der Gesundheitspolitik

 

Es gibt seit Langem eine prinzipielle Auseinandersetzung um die allgemeine Gesundheitsversorgung: Wird sie als ein öffentliches Gut, als soziales Eigentum aller behandelt oder als eine Ware wie jede andere, sprich wird der allgemeinen Geschäftmacherei auch auf diesem Feld Tür und Tor geöffnet?

 

Für die Position »öffentliches Gut« steht die Solidarität zwischen Jung und Alt, Gesund und Krank, Reich und Arm. Jeder zahlt entsprechend seinen finanziellen Möglichkeiten ein und erwirbt damit den gleichen Anspruch auf Versorgung nach den medizinisch-pflegerischen Notwendigkeiten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen gleich viel ein.

 

Für die Position »Ware« steht die Ausnutzung der hohen Bereitschaft, Geld für die Gesundheit auszugeben. Je unterschiedlicher die Angebote, desto höher die Bereitschaft, individuell mehr Geld dafür auszugeben - so man es denn hat. Das Leistungsangebot orientiert sich an den Bedürfnissen der zahlungskräftigen Patienten (Marktorientierung).

 

Was jetzt schon falsch läuft

 

Der zweite Weg ist schon längst eingeschlagen worden. Die Arbeitgeber tragen statt der Hälfte höchstens noch ein Drittel der Gesundheitskosten. Den Rest zahlen die Arbeitnehmer und die Kranken über Zuzahlungen. Für Einkommen über 3 670 Euro (ab 2010 über 3 750 Euro) muss kein Beitrag abgeführt werden. Immer mehr Gutverdiener haben sich über Privatversicherungen aus der solidarischen Finanzierung gestohlen.

 

Die immer weiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich bewirkt, dass durch Zuzahlungen bereits jetzt zunehmend Menschen ausgegrenzt werden. Die Orientierung an den Bedürfnissen der »Zahlungskräftigen« wird in der Pharmaindustrie am deutlichsten, wo das meiste Geld für Marketing und Produktforschung in den profitträchtigsten Bereichen ausgegeben wird. Wo wenig Umsatz winkt, spielen medizinische Notwendigkeiten nur eine untergeordnete Rolle. Obwohl die Kosten im Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Leistung Deutschlands seit Jahrzehnten stabil sind, steigen die Beiträge, weil das Verhältnis von Arbeitnehmereinkommen

zu Unternehmereinkommen in den letzten 25 Jahren dramatisch gesunken ist.

 

Was will die neue Regierung?

 

Es soll eine Umverteilung finanzieller Ressourcen innerhalb des Gesundheitswesens geben. Die Einkommen von Apotheken, Arzneimittelherstellern und niedergelassenen Arzte werden verbessert, der Zugang zu Privatversicherungen erleichtert. Bei Medizinischen Versorgungszentren erhalten die niedergelassenen Arzte Vorrang vor den Krankenhäusern, das Belegarztsystem wird gefördert.

 

Ansonsten finden sich im Koalitionsvertrag neben allgemein gehaltenen Bekenntnissen zum Gesundheitswesen als öffentliches Gut eine Reihe von verklausulierten Festlegungen, die übersetzt werden müssen, wenn man sie wirklich verstehen will. Dann wird aber klar, dass sie hochbrisant sind und dass hier ein Systemwechsel vorbereitet wird:

 

»Wir wollen, dass die Krankenversicherungen genügend Spielraum erhalten, um im Wettbewerb gute Verträge gestalten zu können« (dieses und alle nachfolgenden Zitate sind aus dem Koalitionsvertrag)

 

Übersetzung: Konkurrierende Krankenversicherungen sollen sich gegenseitig vom Markt verdrängen können. Risikoselektion lohnt sich, Versicherte können unterschiedlich behandelt werden. Leistungsanbieter wie Krankenhäuser werden sich wohl zukünftig einen Wettbewetb um die billigsten Angebote für die Kassen liefern müssen. Billig kann ein Krankenhaus aber nur sein, wenn es seine Personalkosten deutlich senkt.

 

»Die Versicherten sollen auf der Basis des bestehenden Leistungskatalogs soweit wie möglich ihren Krankenversicherungsschutz selbst gestalten können«.

 

Übersetzung: Kranke erhalten künftig nicht mehr selbstverständlich das medizinisch Notwendige, denn der heutige Leistungskatalog wird festgeschrieben. Zukünftigen medizinischen Fortschritt kann nur für sich in Anspruch nehmen, wer zuzahlt. Das Leistungserstattungsprinzip der Kassen soll durch das Kostenerstattungsprinzip ersetzt werden: Der Patient erhält eine Rechnung, bezahlt sie und erhält einen Teil von seiner Versicherung zurück. Dieses Prinzip soll -wie jetzt beim Zahnersatz - erst einmal auf die gesamte Mundgesundheit ausgeweitet werden.

 

Wer die Kosten tragen soll

 

»Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen. Es braucht zudem Anreize für Kosten- und gesundheitsbewusstes Verhalten ... Wir wollen die individuellen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume der Patientinnen und Patienten sowie der Versicherten erweitern. Bei Leistungen des Zahnersatzes, bei Arzneimitteln und bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind die Erfahrungen mit Festzuschüssen, Festbeträgen und Mehrkostenregelungen überwiegend positiv. Daher werden wir prüfen, wo darüber hinaus Mehrkostenregelungen sinnvoll... zum Tragen kommen können »... die Wahlmöglichkeiten der Versicherten stärken.«

 

Übersetzung: Kranke müssen mehr bezahlen. Das Versicherungsprofil wird zur Lotterie.

 

»Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem übergeführt in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden.«

 

Übersetzung: Wie bei einer Autoversicherung soll jeder einkommensunabhängig, ob Sekretärin oder Chef, den gleichen Beitrag zahlen. Geringverdiener zahlen folglich einen immer höheren Anteil ihres Einkommens, Gutverdiener einen niedrigeren. Eine klassische Form der Umverteilung von unten nach oben.

 

»Sozialer Ausgleich« heißt in diesem Zusammenhang, dass viele Arbeitnehmer zu Bittstellern für staatliche Transferleistungen gemacht werden. Das könnte möglicherweise zu einem wirklichen Problem für die neue Regierung werden. Denn wer weiß, wie Hartz TV-Empfänger ihre persönlichen Verhältnisse bloßlegen müssen, mit Kontrollen drangsaliert und zum Teil kriminalisiert werden, der kann kaum glauben, dass die Ausweitung dieser Methoden auf einen großen Teil der Bevölkerung widerstandslos hingenommen wird. Die FDP, die den Schutz der Privatsphäre auf ihre Fahnen geschrieben hat, hat dann auf den Euro genau die Grenze festgelegt, ab wann dieser Schutz gelten soll.

 

Düstere Zukunft für die gesetzlichen Krankenversicherungen

 

» Wir wollen, dass das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung findet. «

 

Übersetzung: Schrittweise Umwandlung der gesetzlichen Krankenkassen in Privatversicherungen.

 

Derzeit unterliegen die gesetzlichen Krankenkassen im EU-Recht ausdrücklich nicht dem Wettbewerbsrecht. Da der Koalitionsvertrag nun aber das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen ausdrücklich fordert, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Europäische Gerichtshof das kippt. Festpreise für Medikamente wären nicht mehr möglich, gesetzliche Versicherungen könnten nur noch wie private Versicherungen auftreten, und eine Bezuschussung durch den Staat wäre grundsätzlich nicht mehr möglich. Dann aber, so vermutlich das Kalkül, war es ja die EU, die dem Staat die politische Steuerungsmöglichkeit zu Gunsten der Bedarfsgerechtigkeit genommen hat.

 

Arbeitgeher aus der Verantwortung

 

» Weil wir eine weitgehende Entkopplung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest

 

Übersetzung: Die Arbeitgeber werden aus der finanziellen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung entlassen. Damit wird ein über 100 Jahre bestehender gesellschaftlicher Konsens der gemeinsamen Finanzierung aufgekündigt, trotz der weiterbestehenden Verursachung vieler Krankheiten durch die Arbeitsbedingungen. Einen Ausgleich für steigende Gesundheitskosten können Arbeitnehmer dann nur noch über Tarifrunden durchsetzen. Eine Möglichkeit, die aber für immer weniger Arbeitnehmer realistisch ist, solange ihr schwacher gewerkschaftlicher Organisationsgrad in vielen Betrieben Durchsetzungsfähigkeit verhindert. Statt einer Bürgerversicherung, die alle Einkommensarten einbezieht, zerstört man so die finanzielle Grundlage für das öffentliche Gut Gesundheit.

 

»Der Gesundheitsmarkt ist der wichtigste Wachstums- und Beschäftigungssektor.«

 

Übersetzung: Wenn die Arbeitgeber aus ihrer Zahlungspflicht entlassen sind, kann die Profitmacherei auch hier so richtig losgehen. Die Zeche zahlen die Versicherten und die Kranken.

 

Fazit

 

Das Ziel der neuen Regierung sieht so aus: Das größte Lebensrisiko, nämlich krank oder pflegebedürftig zu werden, wird Schritt für Schritt privatisiert. Zunehmend entscheidet der Geldbeutel über die Versorgung. Das untere Drittel wird zu Bittstellern, das mittlere Drittel muss einen deutlich höheren Anteil seines Einkommens für Gesundheit ausgeben, und das obere Drittel erhält Versorgung erster Klasse. Mit unterschiedlicher Behandlung und Vernachlässigung der Bevölkerungsschichten, die durch schlechtere Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen eigentlich viel stärker im Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung stehen müssten, soll Geld verdient werden können.

 

Zukünftig würde es nicht nur heißen: »Weil Du arm bist, musst Du früher sterben«, sondern auch »Wenn Du krank bist, wirst Du früher arm«.