PRIVATISIERUNG (gescannt): Auszug aus Erziehung und Wissenschaft, Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW 11/2008 , Seiten 11 – 15

 

Andere Lernphilosophie, bessere Ausstattung, Ganztagsbetreuung - unter dem Strich deshalb bessere  Leistungen der Kinder und Jugendliche. In den Augen vieler Eltern sind das wichtige Vorteile privater Schulen. Die PISA-Studien widersprechen dieser Wahrnehmung: Rechnet man den sozialen Hintergrund der Schüler heraus, haben staatliche Schulen beiden Schülerleistungen die Nase sogar leicht vorne (Bild).

 

Druck auf staatliche Schulen wächst...

 

...Privatschulen profitieren vom Unbehagen der Eltern

 

Trotz oder gerade wegen der Reformen „von oben " bleiben die Missstände im staatlichen Schulsystem  erheblich: Lehrermangel, Unterrichtsausfall., zu wenig individuelle Förderung, schlechte räumliche Ausstattung, stark renovierungsbedürftige Schulgebäude. All das sind Gründe, die vor allem bildungsinteressierte Eltern zunehmend in die Arme privater Bildungsanbieter treiben. Die Konkurrenz um Schülerinnen und Schüler zwischen öffentlichen und privaten Schulen wird härter. Die Sorge vieler Eltern, dass ihr Kind im stark selektiven staatlichen Schulsystem nicht ausreichend gefördert werden kann, wird größer. Deshalb: Öffentliche Bildungseinrichtungen brauchen mehr Geld und Personal, um attraktive Lernangebote machen zu können.

 

Andrea Hündlings lässt keine Zweifel aufkommen: „Wir können doch das i-Tüpfelchen auf dem sein, was Schule leistet", sagt die dreifache Mutter und handelt entsprechend. Einmal pro Woche marschiert sie gemeinsam mit Gleichgesinnten in die Adolf-Klarenbach-Grundschule in Heiligenhaus: Förderunterricht für die Klasse ihres Ältesten ist angesagt. Jan ist sieben Jahre alt und kommt dank der ungewöhnlichen und von der Schule angestoßenen Elterninitiative in den Genuss

individueller Betreuung. Die „Lese-, Mathe und Computermütter" nehmen sich unter Anleitung der Klassenlehrerin jedes Kindes an, den Leistungsstärkeren wie den schwächeren. Elternmitwirkung ist in allen Klassen der zweizügigen Schule Alltag - das Fahrradtraining, die Begleitung auf Klassenfahrten und die Mitarbeit in

 

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Ihre moderne und räumlich großzügige Ausstattung lassen steh viele Privatschulen teuer bezahlen (Bild)

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der schuleigenen Bibliothek inklusive. Als wirkliches Defizit einer staatlichen Einrichtung sehen Mütter und Väter das nicht an. „Diese Schule funktioniert auch ohne uns", sagt Hündlings. Aber die Eltern ermöglichten Zusätzliches, das die Arbeit der Pädagogen erleichtert und den Kindern zugute kommt.

 

Mehr Privatschüler

 

Immer mehr Eltern in Nordrhein-Westfalen sehen das aber nicht mehr ein und kehren dem staatlichen Schulsystem den Rücken. Laut den Schuleckdaten des Ministeriums für Schule und Weiterbildung besuchten im Schuljahr 2007/2008 insgesamt 165 121 Schüler eine allgemeinbildende und 42 441 eine berufsbildende Ersatzschule (Privatschule ). Damit ist mit 207 562 Schülern in Nordrhein-Westfalen ein neuer Höchststand erreicht. Im Jahre 2000 waren es 186 992 Schüler - das ist eine Steigerung um gut zehn Prozent. Der Anteil der Privatschüler an allen Schülern in Nordrhein-Westfalen liegt heute bei 7,3 Prozent. Darüber freut sich Roman Friemel, NRW-Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Privatschulen (VDP): „Immer mehr Eltern schätzen offenbar die Vorteile von Schulen in freier Trägerschaft."

 

Wie zum Beispiel auch diese Mutter, die lieber nicht genannt werden möchte: „Mit unserem Geld stopfen wir im staatlichen System Löcher, an der Privatschule investieren wir es in Qualität." Ihr Sohn besucht ein staatliches Gymnasium, weil „er robust genug ist, um hier zu bestehen". Die Tochter aber sei sensibel und ein wenig verträumt. „Sie ginge in der Schule ihres Bruder unter", glaubt die Mutter und fährt die Jüngste jeden Morgen in die weiter entfernte Privatschule. 600 Euro

monatlich ist ihr das dortige Angebot wert.

 

Andere Lernphilosophie

 

Ähnlich viel investiert Familie K. im Monat für ihre Tochter. Lea, besucht die 3. Klasse der internationalen Schule in Bonn. Hier bezahlen die Eltern von Grundschülern 6500 Euro für das ganze Schuljahr. In der Oberstufe steigt das Schulgeld dann auf bis zu 15000 Euro im Jahr. Wie alle 570 Schulkameraden wird Lea jeden Morgen an der Rezeption des farbenfrohen Hauses von Schulleiter Peter Murphy persönlich empfangen. 30 Minuten nimmt er sich dafür Zeit. „Peter ist da, alles ist in Ordnung", wird den Schülerinnen und Schülern signalisiert. Der Umgang mit den Kindern, die Wertschätzung und der Respekt, die ihnen entgegengebracht werden, sei ein Grund für die Wahl der Schule, sagt die Mutter. Und sie fügt direkt hinzu: „Uns überzeugen die Qualität und Quantität des Angebots." Sie spricht von einer anderen Lernphilosophie. Musik, Kunst und Sport sind keine „Nebenfächer". Das Zeugnis ist kein DIN A4-Blatt mit Ziffern. Halbjährlich wird ein umfangreicher Report erstellt. In ihm werden Stärken und Schwächen formuliert. Sitzen bleiben ist ein Fremdwort, Mehrsprachigkeit die Normalität. Unterrichtsausfall gibt es nicht. Dafür sorgt ein Pool von freien Mitarbeitern, bestehend aus ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern, die einspringen,

wenn Not am Mann oder an der Frau ist. Insbesondere was das Personal angeht, hat Murphy größtes Verständnis für die Klagen und Sorgen der staatlichen Schulen. Unterbesetzt seien sie und dadurch eben nicht in der Lage, kurzfristige Engpässe und Ausfälle zu kompensieren. Er ist überzeugt, dass die Bundesländer selbst mit vielen einzelnen Reformen nur wenig erreichen werden. „Das System muss komplett umgebaut werden", ist er sicher. Wer ihm vorhält, dass eine Privatschule wie die seine einen Beitrag zu noch mehr Chancenungleichheit leistet, muss sich von ihm den Hinweis auf das mehrgliedrige Schulsystem gefallen lassen: „Das Sortieren der Zehnjährigen ist ungerecht. Das dreigliedrige Schulsystem produziert drei soziale Schichten." In den internationalen Schulen dagegen entstehe Gemeinschaft von Menschen zwischen drei und 19 Jahren.

 

Die Freie Aktive Grundschule in Wülfrath lässt Vorbehalte, ihr modernes Konzept (eine Pädagogin kümmert sich um 15 Kinder und ist bis 16 Uhr in der Schule) funktioniere nur, weil hier der Nachwuchs bildungsnaher Familien zusammenkommt, nicht gelten. Der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund oder aus Arbeiterfamilien entspricht nach Aussage der Schule dem staatlicher Schulen. „Und tiefer als für eine staatliche Offene Ganztagsschule (OGS) müssen Eltern hier auch nicht in ihre Tasche greifen - mit 150 Euro im Monat sind sie dabei."

 

Den Vergleich staatlicher Schulen und jenen von Eltern getragenen „Unternehmen" mag Norbert Becher nur eingeschränkt gelten lassen. Dass Privatschulen  besser seien als die staatlichen Schulen, kann der Landesvorsitzende der Fachgruppe Gymnasien in der NRW-GEW nicht erkennen. Er vergleicht die staatlichen Schulen auch lieber mit den „normalen" - zumeist kirchlichen - Privatschulen, die nicht wie ein Unternehmen geführt werden. Dort sieht er keine wirklichen Qualitätsunterschiede. Die jüngsten PISA- Ergebnisse bestätigen dies. So hieß es in der PISA- Studie 2006: „Nach Bereinigung um den Effekt des sozioökonomischen Hintergrunds der Schülerinnen und Schüler und

 

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Mittagessen in der schuleigenen Kantine. Bei privaten Anbietern eine Selbstverständlichkeit. In den meisten staatlichen Gymnasien NRWs beschert die verkürzte Schulzeit Schülerinnen und Schülern einen längeren Lerntag, aber das Angebot einer Mensa fehlt.(Bild)

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Im Klassenraum B 304 des staatlichen Bonner Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums knubbeln sich täglich 30 Schülerinnen und Schüler auf 43 Quadratmetern. Eigentlich dürften nach Raumvorgabe der Regierung maximal 21 Schülerin den Raum hinein. Wen wundert's, dass Eltern nach schulischen Alternativen suchen? (Bild)

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den Schulen ist Kanada das einzige OECD-Land, in dem die Privatschulen einen statistisch signifikanten Leistungsvorsprung gegenüber den öffentlichen Schulen ausweisen. (...) Hingegen schneiden in der Schweiz, in Japan, in der Tschechischen Republik, in Griechenland, Italien, Mexiko und Luxemburg (...) die Öffentlichen Schulen nach Berücksichtigung des sozioökonomischen Kontexts der Schülerinnen und Schüler und der Schulen besser ab als die Privatschulen." (s. E&W 1/2008).

 

Trotzdem: Becker ist sich mit GEW-Landeschef Andreas Meyer- Lauber einig, dass das Anwachsen der Privatschulen „Motivation und Signal sein muss, die Qualität der staatlichen Schulen zu verbessern". Zugleich erinnert er an die ungleichen Startbedingungen von öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen. Dank 95-prozentiger Refinanzierung durch das Land sowie der Zuschüsse von Eltern und Trägern stünde Privaten einfach mehr Geld zur Verfügung. Geld, das sich zum Beispiel in besserer Ausstattung und gut instand gehaltenen Gebäuden niederschlage.

 

Die ehemalige Vorsitzende des Bundeselternrats (BER) und SPD- Landtagsabgeordnete Renate Hendricks lässt Geld allem als wesentliche Ursache für einen Qualitätsunterschied nicht gelten. Etwas mehr als 5000 Eure lasse sich NRW einen Grundschulplatz jährlich kosten. Rechne man die monatlichen Elternbeiträge zu: OGS dazu, komme man etwa auf die Summe, die beispielweise die Internationalen Schulen im Grundschulbereich von den Eltern verlangen. Geld genug, findet

Hendricks, um Schulen und Klassenräume vernünftig, modern und ansprechend auszustatten. Woran hakt es also? „Es gibt gravierende Mängel bei der Ausstattung der Schulen. Mancherorts sind diese hausgemacht, weil Kommunen ihre Schulträgerschaft nicht so ernst genommen haben", bedauert Meyer-Lauber.

 

Nicht für Missstände belangen

 

Geht es nach ihm, dürfen die Eltern für die Behebung solcher Missstände - etwa mangelhafte sanitäre Anlagen - finanziell nicht herangezogen werden. Von deren Engagement lebe Schule zwar, doch das dürfe sich nicht aufs Geld beziehen. Dass die Realität anders aussieht, zeigt ein Blick ins Bonner Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. Erst seit wenigen Jahren verfügt die im Herzen der Stadt liegende und vom musischen und naturwissenschaftlichen Profil geprägte Schule über einen modernen mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachraum. Und zwar nur deshalb, weil Eltern tief in ihre Tasche griffen. 120000 Euro brachten sie alleine für diesen Raum auf. Eine Summe, über die Eltern von Hauptschülern gar nicht verfugen könnten. Dabei haben die Schulträger diese Schulen oft noch viel stärker herunterkommen lassen. Ähnlich verhält es sich mit dem Aufenthaltsraum für die Oberstufenschüler. Und doch kann Schulleiter Uwe Bettscheider nach wie vor nicht verhindern, dass sich im Klassenraum B304 täglich 30 Schülerinnen und Schüler auf 43 Quadratmetern knubbeln. Eigentlich dürften nach Raumvorgabe der Regierung maximal 21 Schüler in den Raum hinein. Mit einem Anflug von Sarkasmus urteilt er: „Bei Hühnern wäre das verboten."

 

Bettschneider spricht von einem deutlichen Druck auf öffentliche Schulen, ihre Qualität zu verbessern, weil „die Eltern das Gefühl haben, sie bekämen bei den Privaten bessere Angebote". Diese Einstellung teilt der Schulleiter jedoch nicht generell. Nur die Privaten seien wirklich besser, die von den Eltern „richtig Geld" abkassieren. Aber, so schränkt er ein, die Privatschulen seien oft flexibler und könnten wegen der kurzen Wege zwischen sich und ihrem Träger schneller Entscheidungen treffen. „Sein" Elternvertreter Andreas Schwarzwald kritisiert die traditionelle Aufteilung der

 

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In staatlichen Schulen macht sich zunehmend der Trend bemerkbar, dass Eltern für die Beseitigung der Missstände an den Schuten aufkommen. Zum Beispiel verfügt das Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium zwar seit wenigen Jahren über einen modernen naturwissenschaftlichen Fachraum, Aber nur deshalb, weil  Eltern ihn mit 120 000 Euro finanziert haben. (Bild)

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Zuständigkeiten im staatlichen Schulsystem. Er hält nichts davon, dass die Vorgaben vom Land kommen, von den Kommunen aber (finanziell) umgesetzt werden müssen. „Es wäre besser, wenn Schulen als eigenes, kleines Unternehmen arbeiten könnten, wie Privatschulen es tun." Zu dem Unternehmen Schule gehören nach Schwarzwald zum Beispiel Ganztagsangebote, individuelle Förderung, Erreichbarkeit der Pädagogen in der Schule sowie bauliche und organisatorische Veränderungen. Arbeitsplätze für Lehrkräfte sowie Differenzierung zwischen pädagogischem und kaufmännischem Direktor nennt der Elternvertreter, der selber eine Firma aufgebaut hat, als weitere notwendige Maßnahmen. Als einen Grund für die zunehmende Unzufriedenheit von Eltern und deren Flucht zu Privatschulen machen Gewerkschaftsvertreter und Pädagogen manche im Kern zwar sinnvollen, aber übereilt durchgeboxten Reformen der Kultusminister aus. Nach wie verstummen die Klagen nicht, die OGS in NRW komme über den Status der Verwahrung nicht hinaus. So teilen sich an einer Bonner Grundschule komplette Klassen ein Waschbecken zum Zähneputzen, in dem sie zuvor ihre Malpinsel gereinigt haben. Oder das Beispiel verkürzte Gymnasialschulzeit. Das Abitur nach acht Jahren hat zur Folge, dass die tägliche Stundenzahl auf sieben und mehr Stunden ansteigt. Doch für die Mittagspause fehlt zumeist eine Mensa. Diese Situation erinnert an die ungläubige Frage des schwedischen Bildungsforschers Mats Ekholm bei seinen Besuchen deutscher Schulen: „Warum gebt ihr euren Kindern denn nichts zu essen?"

 

Solche Zustände und das Gefühl der Eltern, staatliche Schulen förderten ihre Kinder nicht ausreichend, treiben das Interesse an Privatschulen in die Höhe. Ein Blick nach Europa aber zeigt, dass sich die Schülerzahlen an Privatschulen in Deutschland noch auf niedrigem Niveau bewegen. Europaweit besucht nach  Angaben des Privatschulverbands NRW im Schnitt jeder fünfte Schüler eine private Bildungseinrichtung. Um dem Trend schleichender Privatisierung entgegenzuwirken, müsse man sich nur die Entwicklung des Öffentlichen Schulsystems In England anschauen, meint Peter Murphy, der dort 16 Jahre eine staatliche Schule geleitet hat, „und diese als Mahnung für das staatliche Schulsystem in Deutschland begreifen".

 

Stephan Luke, Inge Michels, freie Journalisten