Oberhessische Zeitung vom 13.02.2009

Vogelsbergkreis

 

„Demokratie bedeutet immer auch Zeitverzögerung"

 

Alsfelds früherer Bürgermeister Herbert Diestelmann steht nach 20 Jahren im Amt vor Gericht - Direktor Schelzke über Macht und Realitätsverlust

 

ALSFELD/MUHLHEEVL Wohl kaum ein Außenstehender kann sich so gut in den „Fall Diestelmann" hineinversetzen wie dieser Mann: Karl-Christian Schelzke, der geschäftsführende Direktor des Hessischen Städte- und Gemeindebundes. Acht Jahre lang war der heute 58-Jährige selbst Bürgermeister in der 27 000 Einwohner-Stadt Mühlheim am Main und kennt die Fallstricke, die im Amt lauern. Dazu kennt er als früherer Oberstaatsanwalt auch die Befindlichkeit der heutigen Ankläger für Aisfelds früheren Bürgermeister. OZ-Redakteur Axel Pries fuhr nach Mühlheim, wo der Städte- und Gemeindebund seinen Sitz hat und führte mit dem Fachmann ein Gespräch rund um die in Oberhessen allgemein gestellte Frage: „Wie konnte es soweit kommen?"

 

Frage: Herr Schelzke! Wie viel ist von der Aisfelder 'Bürgermeister-Geschichte' bis hier durchgedrungen?

 

Nur das, was man in Zeitungen liest. Das habe ich aufmerksam verfolgt. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir eine direkte Anfrage bekommen haben.

 

Spielt der Städte- und Gemeinde blind eine Rolle rund um das Verfahren über Herrn Diestelmann?

 

Im Moment nicht. Wir haben mit strafrechtlichen Verfahren nichts zu tun. Unsere Aufgabe ist es, die Kommune in allen rechtlichen Angelegenheiten zu beraten — aber nicht bei der strafrechtlichen Frage. Sehr wohl haben wir aber im Moment eine Vielzahl von Fragen aus Alsfeld, die zivilrechtliche Angelegenheiten betreffen.

 

Herr Diestelmann galt im Amt als risikofreudig und eigensinnig. Wieviel Risiko soll und darf ein engagierter Bürgermeister eingehen, um seine Stadt voranzubringen?

 

Das kommt natürlich wie so vieles im Leben auf den Einzelfall an. Also: Risikofreude würde ich nicht für ein gutes Leitbild für einen Bürgermeister halten. Denn die Risikofreude mag Innovationsfreude sein, aber er muss ja immer seine Entscheidungsgremien mitnehmen — den Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung. Und es kann nicht sein, dass er Zusagen macht, die auch möglicherweise die Stadt schadensersatzpflichtig machen, dann erst hinterher in die Gremien geht und damit das Risiko eingeht, dass seine Entscheidung nicht mitgetragen wird. Davor würde ich schon warnen. Aber sonst: Er muss innovativ sein, er muss Ideen haben, er muss begeistern können — das geht nur, wenn er sich selbst auch begeistern kann. Und damit muss er in die Gremien und für seine Ideen Mehrheiten gewinnen. Da mag auch schon mal Verzweiflung eintreten, wenn man an eine Idee glaubt und dann an parteipolitischen Dingen scheitert.

 

Ist nicht auch manchmal der demokratische Entscheidungsweg ein Hindernis, wenn man mit Unternehmen verhandelt, die schnellere Entscheidungen verlangen?

 

Dazu fällt mir der alte Satz von Winston Churchill ein, der ungefähr sagte: 'Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, wir haben nur keine bessere.' Natürlich: Demokratie bedeutet immer auch Zeitverzögerung. Ich muss für meine Ideen andere Menschen gewinnen ~ zumindest die Mehrheit. Das ist der demokratische Prozess.

 

Kennen Sie Bürgermeister, die ähnlich eigenmächtig handelten wie Herr Diestelmann?

 

Ich kenne so etwas aus fernerer Vergangenheit. Da kenne ich Geschichten, die manchmal mit Schmunzeln erzählt werden, wie Bürgermeister in den sechziger Jahren Entscheidungen gefällt haben. Aber das war eine andere Zeit, insbesondere während der Wiederaufbauphase. Die kommunale Finanzmisere setzte ja erst Ende der 80er Jahre ein. Damals gab's einen Satz, den niemand in Frage stellte: 'Ein Bürgermeister muss arbeiten können, ohne müde zu werden, trinken können, ohne betrunken zu werden und er muss lügen können ohne rot zu werden. 'So etwas sieht man heute sicher nicht mehr als Qualität eines Bürgermeisters an. Aber damals war der Bürgermeister eine Respektsperson, von der man akzeptierte, dass er wenig Widerspruch duldet. Heute mag es den einen oder anderen Fall auch geben, da kann ich jetzt aber keinen Namen nennen. Mir fallen schon konkrete Fälle ein, aber die sind wirklich die Ausnahme. Durch die Direktwahl und die kritischere Öffentlichkeit sind solche Handlungsweisen eigentlich nicht mehr üblich.

 

Herr Diestelmann hat zwei Jahrzehnte als Chef des Alsfelder Rathauses gewirkt. Wie konnte es dazu kommen, dass es so endet?

 

Ich kenne jetzt in diesem Fall nicht die genauen Umstände. Ich denke aber, wenn man ständig von den Menschen angesprochen wird und man merkt, dass man beliebt ist, dass die eigenen Ideen honoriert werden, dann kann die Idee aufkommen: Das einzige was lästig ist, das sind der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung. Man bekommt langsam das Gefühl, dass man selbst am besten weiß, was gut ist für diese Stadt. Dass man sehen muss, wie man es möglichst ohne großen politischen Widerstand durchsetzen kann. Wenn man dann nicht in der unmittelbaren Umgebung Menschen hat, die das ganz kritisch betrachten, dann wird es problematisch für einen Bürgermeister.

 

Diestelmann räumt selbst ein, dass die von ihm gewährten Kredite unrechtmäßig waren. Kennen Sie ähnliche Fälle, in denen Bürgermeister ohne Wissen und Segen der kommunalen Gremien öffentliche Kredite gewährt hat?

 

Keinen aktuellen Fall. Aber ich kann mich an einen Fall von vor 25 Jahren erinnern, im Kreis Offenbach, da gab es die gleichen Probleme. Da ging es um die Einrichtung eines Erholungsgebietes, einer Badelandschaft und da ist das gleiche passiert. Da sind Verträge abgeschlossen worden, ohne dass die kommunalen Gremien beteiligt wurden.

 

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Direktor Karl-Christian Schelzke an seinem Schreibtisch in Mühlheim, Foto: aep

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Es gibt an der Geschichte noch einen Aspekt, der heiß diskutiert wird: Weil die Stadt diese Kredite nach Bekanntwerden des Falls sofort kündigte, ist die stadteigene Gesellschaft insolvent geworden. Haben Sie so etwas schon erlebt? Glauben Sie, dass das Rating solcher Gesellschaften sich dadurch verändert?

 

Also, das ist für mich auch ein Einzelfall und angesichts der finanziellen Verhältnisse in Alsfeld gab es wahrscheinlich auch keine andere Möglichkeit. Aber die eigene Gesellschaft an die Wand zu fahren — das kann in der Tat Folgen für das Rating dieser Gesellschaften haben. Bislang galt ja immer, dass Kommunen dahinter stehen, die nicht pleite gehen können. Ich kann nicht beurteilen, ob dieser Weg richtig war. Aber ich denke mir, dass bei dem fraglichen Betrag und einer Verschuldung von 50 Millionen Euro gar kein anderer Weg möglich war.

 

Wenn Herr Diestelmann nun zu einem Jahr oder mehr Haftstrafe verurteilt wird, dann verliert er seinen Beamtenstatus, dann verliert er seine Pension, dann bekommt er Rente. Stimmt es, dass Alsfeld dann erst einmal die Rentenbeiträge für 20 Jahre nachzahlen muss?

 

Das ist Aufgabe der Beamten-Versorgungskasse in Darmstadt. Einzelheiten müsste Sie dort einmal nachfragen. Also, es ist nicht so, dass die Stadt Alsfeld da alleine das zu tun hat, aber es stimmt: Wenn er zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt wird, verliert er den Beamtenstatus. Wenn es mehr als zwei Jahre werden, könnte die Haft nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden.

 

Aber lassen Sie mich mal eine kritische Anmerkung machen: Wenn Herr Zumwinkel mit einer Millionen Euro Steuerhinterziehung zwei Jahre auf Bewährung bekommt - der im vollen Wissen darum so viel Geld am Fiskus vorbei schleuste, dann fragt sich doch mancher, ob der Vorwarf gegen Herrn Diestelmann sich nicht relativiert. So würde ich als einfacher Mensch diskutieren. Bei den Krediten hatte er wohl eher das Wohl der Stadt im Blick, auch wenn er das ohne Zustimmung getan hat. Und was die anderen Sachen angeht, da wäre zu prüfen, ob das wirklich mit böser Absicht geschehen ist oder ob er nur die Sachen in Verwahrung genommen hat.

 

Kann man das Dilemma so zusammenfassen, dass Herr Diestelmann über 20 Jahre Engagement als Bürgermeister schlicht den Boden unter den Füßen verloren hat?

 

Ja. Genauso kann man das sagen.

 

...den Bezug zum Umfeld verloren hat?

 

Ja... Aber andere werden mit Sicherheit gemerkt haben, dass er den Boden verliert - und haben ihn anscheinend nicht darauf aufmerksam gemacht. Also, ich glaube nicht, dass Herr Diestelmann — ich habe ihn einmal persönlich kennen gelernt - so völlig beratungsresistent ist.

 

Es wäre also auch Sache der ihm nahen Fraktion gewesen, ihn zu stoppen...

 

...aber nicht nur Sache dieser Fraktion. Von allen...

 

...aber von der Opposition hätte er ja gar nichts anderes erwartet als Kritik.

 

Das hängt von der Opposition ab: Es gibt starke und schwache Opposition. Man kann zur Not einen Akteneinsichtsausschuss beantragen. Ist das jemals geschehen? Und ich weiß nicht, ob klar war, dass man mit Kassenkrediten nur vorübergehende Liquiditätsengpässe ausgleichen kann.