Auszug aus Erziehung und Wissenschaft,
Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW 12/2008 , Seiten 26 – 27 ).
Geplatzte Illusionen
Nur koordiniert kann sich Europa aus der Finanzkrise
befreien
Anmerkungen der Redaktion:
* Verbriefungen: Gemeint ist, handelbare
"Wertpapiere aus Kreditforderungen oder Eigentumsrechten (z. B.
Leasing-Forderungen) im weitesten Sinne zu schaffen.
** Homöopathie basiert auf dem Ähnlichkeitsprinzip:
„Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden, "In der Homöopathie wird
die Arzneisubstanz schrittweise mit Wasser und Alkohol verdünnt, sodass der
Ausgangsstoff nicht mehr nachweisbar ist.
***Subprime-Kredite: Als Subprime-Markt wird ein Teil
des privaten Hypothekendarlehensmarktes bezeichnet, der überwiegend aus
Kreditnehmern mit sehr geringer Bonität besteht.
2008 schreibt
Wirtschaftsgeschichte. Seiten sind innerhalb eines so kurzen Zeitraums derartig
viele zuvor als eherne Grundsätze geltende Verhaltensweisen über Bord gegangen
wie in diesem Jahr. Vieles, was vor wenigen Monaten noch undenkbar schien, wie
die Teilverstaatlichung des Bankensektors auf beiden Seiten des Atlantiks, ist
nunmehr Realität. Was geschehen ist, analysiert der Finanzexperte Gustav A.
Hörn.
Geschehen ist vor allem der
Zusammenbruch wirtschaftlicher Illusionen. Sie
bestanden im Kern darin, dass die Akteure auf den globalen
Finanzmärkten glaubten, sie könnten durch geschickte und intelligente
Innovationen von Finanzmarktprodukten auf Dauer eine höhere Rendite auf ihr Eigenkapital
erzielen als dies in der Realwirtschaft langfristig möglich ist. Dabei hängt
der Finanzmarkt unausweichlich am Tropf der Realwirtschaft. Jeder
Finanzmarktkontrakt vorn einfachsten Kreditgeschäft bis hin zum Handel mit
komplexen Verbriefungen* basiert letztlich auf einer realwirtschaftlichen
Transaktion. Nur wenn ein Unternehmen, ein privater Haushalt oder der Staat
seine Geschäfte oder Vorhaben nicht mit Barmitteln durchführen kann oder will,
wird die Hilfe des Finanzmarktes in Anspruch genommen. Dies kann als Schuldner
oder als Gläubiger geschehen. Jeder Gläubiger führt dem Kapitalmarkt Mittel zu,
jeder Schuldner entzieht sie ihm. Damit sind die dem Kapitalmarkt zur Verfugung
stehenden Ressourcen unmittelbar mit der Einkommensentwicklung der Realwirtschaff verknüpft. Die Rahmenbedingungen werden
darüber hinaus noch von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und der
Geldpolitik gestaltet, die über die Leitzinsen einen maßgeblichen Einfluss auf
die Zinsen, also die Preise auf den Finanzmärkten, ausübt.
Sind die Renditen auf dem
Finanzmarkt höher als in der Realwirtschaft, wird das Angebot an Finanzmitteln
durch Gläubiger stärker zunehmen als die Nachfrage nach ihnen durch Schuldner.
Denn in diesem Fall ist es rentabler, seine Mittel auf dem Finanzmarkt
anzulegen als realwirtschaftlich zu investieren. Das bedeutet aber, die
Kreditvergabe muss billiger werden. Somit sinkt die Finanzmarktrendite in
Richtung der realwirtschaftlichen. Analoges gilt für den umgekehrten Fall einer
niedrigeren Finanzmarktrendite. Immer wieder sorgt der Marktmechanismus dafür,
dass sich die Renditen auf beiden Märkten nicht dauerhaft auseinander
entwickeln. Unter diesen Umständen sind höhere Renditen im Einzelfall nur
temporär oder aber mit dem Eingehen höherer Risiken möglich.
Dieser Zusammenhang geriet
aber offensichtlich in den vergangenen Jahren in Vergessenheit. Die neu
strukturierten Finanzmarktprodukte erweckten die Illusion, dass Risiken auf
diese Weise „homöopathisiert"** und so zum Verschwinden gebracht würden.
Tatsächlich wird zwar das Risiko einer einzelnen Anlage für den Erzeuger der
Finanzanlage (Originaler) vermindert. Dies erwies sich jedoch wie im Fall der
Subprime-Kredite *** in den USA als Anreiz, größere Risiken als früher
einzugehen. Gleichzeitig werden diese sogar über die Verbreitung durch
Verbriefungen in Form von Wertpapieren noch weiter gestreut. Die Risiken
bleiben erhalten, wenn auch jeweils in kleineren Dosierungen. Werden, wie im
Fall der Subprime- Produkte, die Risiken relevant, bleiben die Schäden nicht
auf die ursprünglichen Risikonehmer begrenzt, sondern weiten sich rasch über
den gesamten globalen Finanzmarkt aus. Damit schwindet dann aber das Vertrauen
in alle möglichen Produkte, die Kurse fallen und Kapital wird vernichtet.
Folgen für die Realwirtschaft
Es wird zunehmend deutlicher,
dass -ausgehend vom Zusammenbruch des US-amerikanischen Subprime-
Immobilienmarktes - sich die realwirtschaftlichen Folgen der Übersteigerungen
auf den Finanzmärkten in immer höheren Wellen weltweit ausbreiten. Nicht nur
die USA, sondern auch Europa und viele Schwellenländer stehen mittlerweile am
Rande einer Rezession oder befinden sich bereits mittendrin. Banken und
Finanzmarktinvestoren gehen nur noch geringere Risiken ein. Weltweit wird die
Kreditvergabe restriktiver. Das gilt auch für die Banken untereinander. Der
Interbankenmarkt (der Geldhandel zwischen den einzelnen Banken - Anm. d. Red.)
ist zum Erliegen gekommen und damit stockt der Geldkreislauf. Dies trifft
zunehmend die Finanzierung von realwirtschaftlichen Investitionen, die
entsprechend gesenkt werden. Ein globaler Investitionseinbruch ist zu
befürchten, wahrscheinlich bereits im Entstehen begriffen. Generell gilt, dass
die Instabilität der Finanzmärkte sich auf diese Weise zunehmend negativ auf die
Stabilität der Konjunktur auswirkt und Aufschwünge und damit auch die
Beschäftigungsdynamik zürn Erliegen bringen. Die Zeche zahlen am Ende die
Arbeitnehmer.
Was ist zu tun?
Die Verschärfung der
Finanzmarktkrise hat die nationalen Regierungen zum massiven Einschreiten
gezwungen. Europas Regierungen haben Rettungspakete im Gesamtumfang von über
zwei Billionen Euro geschnürt (ohne erhöhte Einlagensicherung). Fast täglich
werden Banken teil verstaatlicht. Auch die Bundesregierung hat 500 Milliarden
Euro zur Stabilisierung des Finanzsektors zur Verfügung gestellt. Nach der
Erleichterung über die groß angelegte globale Initiative zur Stabilisierung der
Kreditwirtschaft und der Finanzmärkte ist mittlerweile eine gewisse
Ernüchterung festzustellen. Aktien haben weiterhin weltweit an Wert verloren,
und wenig deutet bisher darauf hin, dass sich das Vertrauen zwischen den Banken
wieder hergestellt hätte. Noch immer kann der komplette Zusammenbruch des
Finanzsystems nicht völlig ausgeschlossen werden.
Abgestimmte Rettungsaktion
In den vergangenen Wochen ist
es aber gelungen, eine international abgestimmte Rettungsaktion für den
Bankensektor in Gang zu setzen. Was allerdings noch fehlt, sind international
koordinierte kräftige konjunkturpolitische Maßnahmen gegen die
weltwirtschaftliche Rezession. Diese zweite Komponente muss in einem
Konjunkturprogramm bestehen, das die Wirtschaft insgesamt stimuliert und nicht
nur einzelne Sektoren. Zwar dürfte der finanzielle Aufwand für den Staat bei
einer aktiven Konjunktur- und Wachstumspolitik und durch die Staatsgarantien
zunächst höher sein als ohne diese, aber im Laufe der Zeit müsste sich der
höhere Anfangsaufwand mehr als ausgleichen. Denn die Banken erholen sich
rascher aufgrund der schneller wieder Fuß fassenden Konjunktur. Damit werden
sie ihre Vorsicht bei der Kreditvergabe schneller überwinden und den
Unternehmenssektor hierdurch stimulieren. Es entsteht in der Folge eine
positive Wechselwirkung zwischen Konjunktur und Konsolidierung des
Finanzsystems. Dies führt auch zu höheren Steuereinnahmen des Staates.
Gleichzeitig erlaubt die raschere Konsolidierung des Bankensektors einen
schnelleren Verkauf der staatlichen Anteile am Bankensystem sowie der
übernommenen Finanztitel zu einem höheren Preis. Damit kann die Schuldenlast
wieder reduziert werden.
Wachstumspaket schnüren
Ein Vorschlag ist:
Die Finanzpolitik muss die
automatischen Stabilisatoren voll wirken lassen, d.h. sie muss
konjunkturbedingte Defizite hinnehmen und darf ihnen nicht hinterher sparen. Anders
ausgedrückt:
1. Mit dem Abschwung sinken
die Einnahmen des Staates, während seine Ausgaben z. B. für Arbeitslosengeld
steigen. Werden also weniger Steuern gezahlt und wird dafür mehr
Arbeitslosengeld ausgezahlt, „stabilisiert sich zwar automatisch" die
Wirtschaft, aber zugleich vergrößert sich das Haushaltsdefizit des Staates. Nur
so lässt sich der Abwärtstrend durchbrechen. Diese Entwicklung darf man
allerdings nicht durch Sparprogramme konterkarieren.
2. Über diese automatischen
Stabilisatoren hinaus bedarf es eines zusätzlichen kräftigen fiskalischen
Impulses durch ein Wachstumspaket. Um eine spürbare Wirkung zu entfalten,
sollte der gesamtstaatliche Impuls angesichts der Schärfe des zu erwartenden
Abschwungs im nächsten Jahr nicht schwächer als 25 Milliarden Euro (ein Prozent
des Bruttoinlandsprodukts [BIP]) sein. Auch dieser Impuls darf nicht durch
Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen an anderer Stelle konterkariert werden.
3. Das Wachstumspaket sollte
Maßnahmen aus vier Teilbereichen kombinieren, die sich sowohl zeitlich als auch
hinsichtlich ihrer Wirkung optimal ergänzen. Bei den Teilbereichen handelt es
sich um
• die konjunktur- und
wachstumspolitisch besonders effektive dauerhafte Aufstockung der öffentlichen
Investitionen in Bildung und ökologische Infrastruktur,
• die Stützung des privaten
Konsums durch zeitlich befristete breite Entlastungen für die privaten
Haushalte,
• selektive zeitlich
befristete Kredithilfen sowie Investitions- und Beschäftigungsanreize im
Bereich der ökologischen Modernisierung und zur Förderung von
Handwerksdienstleistungen,
• enge Kooperation zwischen
den Gebietskörperschaften, Insbesondere finanzielle Unterstützung der
Gemeinden, damit diese als zentrale Öffentliche Investoren ihre Investitionen
bei konjunkturbedingten Einnahmeausfällen nicht kürzen müssen.
Im Rahmen eines solchen
Programms kann sich die Konjunktur im Lauf des kommenden Jahres wieder erholen.
Voraussetzung hierfür ist aber auch, dass in allen Ländern des Euroraums
ähnliche Maßnahmen ergriffen werden und die Geldpolitik diesen Kurs auch
unterstützt. Nur koordiniert kann sich Europa aus dieser Krise befreien. Auch
dies ist eine Lehre aus 2008, das ein besonderes Jahr ist.
Gustav A. Hörn, Finanzexperte,
Hans-Böckler-Stiftung