Bis heute ist die deutsche
Gesellschaft in eine repräsentative parlamentarische Demokratie als politischer
Überbau und einen nicht demokratisierten ökonomischen Unterbau gespalten. In
der Wirtschaft herrscht einseitig das Kapital - nach der weltweiten
Liberalisierung der Märkte insbesondere das Finanzkapital. Auf den Märkten sind
die Strukturen weitgehend vermachtet und in den Unternehmen gibt es immer
weniger Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten. Autokratische und
paternalistische Führungsstile sind auf der einzelwirtschaftlichen Ebene an der
Tagesordnung. Das "Investitionsmonopol" (Erich Preiser) ist
ungebrochen. Die Angst um den Arbeitsplatzverlust vor dem Hintergrund der
Massenarbeitslosigkeit schüchtert die Menschen ein. Eine in den letzten Jahren
vertiefte Segmentierung der Arbeitsmärkte in Stamm- und Randbelegschaften hat
immer mehr prekäre Beschäftigungs- und Ausbeutungsverhältnisse geschaffen. Die
Arbeit wurde individualisiert, d. h. jede und jeder einzelne Beschäftigte muss
nun ihren oder seinen Anteil an der unternehmerischen Wertschöpfung individuell
nachweisen. Selbst die kapitalistische Logik wurde dabei auf den Kopf gestellt.
Nicht mehr der Profit ist Residualeinkommen, sondern zunehmend das
kontraktbestimmte Arbeitseinkommen.
Gleichzeitig ist der Markt- und Wettbewerbsgedanke geradezu zu einem
"Wahn" mit "Realitätsverlust" (John Kenneth Galbraith)
degeneriert. Alles soll dem Wettbewerbsprinzip ausgesetzt werden, selbst die
bisher (noch) uneingeschränkt anerkannten öffentlichen Güter wie Bildung und
Gesundheit. Privatisierungsorgien öffentlicher Unternehmen und staatlicher
Leistungen der Daseinsvorsorge mit Strom, Gas, Wasser, Post, Telekommunikation
u. a. ergänzen die neoliberale Strategie der Umverteilung. Auf europäischer
Ebene konkurrieren die einzelnen Länder um die Unternehmen, die in geradezu erpresserischer
Art und Weise von der Politik im Sinne einer Standortkonkurrenz
kapitalfreundliche Verwertungsbedingungen verlangen und nur noch auf das Ziel
Profitmaximierung ausgerichtet sind.
Zentrale Rolle spielt die Tarifpolitik
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik stellt dem die grundsätzliche
Forderung nach mehr Demokratie auch in der Wirtschaft entgegen. Diese
Demokratisierung bezieht sich auf die Makro-, die Meso- und die Mikroebene. Ein
ganzheitliches Emanzipations- und Demokratisierungskonzept beinhaltet sowohl
repräsentative als auch basisdemokratische Strukturen und Prozesse und soll
schrittweise zur Herausbildung einer neuen Wirtschaftsordnung führen. (…)
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Die Autoren
Der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gehören Wissenschaftler aus
Universitäten, Fachhochschulen, Forschungseinrichtungen und Gewerkschaften an.
Ihr jährliches Memorandum ist ein Gegenentwurf zu den von den jeweiligen
Bundesregierungen bemühten Jahresgutachten der "Fünf Weisen". Das
neuste Memorandum wurde gestern in Berlin vorgestellt. Arbeitsgruppe
Alternative Wirtschafts-politik, Postfach 33 04 47, 28 334 Bremen E-Mail:
memorandum@t-online.de Internet: www.memo.uni-bremen.de ber
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Eine zentrale Rolle bei der Sicherung dauerhaft guter Arbeitsplätze und
ausreichender Einkommen spielt die Tarifpolitik. Solange der
verteilungsneutrale Spielraum aus Produktivitätssteigerung und Inflationsrate
pro Jahr dauerhaft nicht in Form nominaler Lohn- und Gehaltserhöhungen
ausgeschöpft wird, ist die Binnennachfrage zu schwach um die Arbeitsplätze zu
sichern. Die Exportwirtschaft bietet hier keine Kompensation, ganz abgesehen
davon, dass der deutsche Leistungsbilanzüberschuss zu Lasten der Defizitländer
geht und auf die Dauer zu schweren Konflikten führen muss.
Betrachtet man die vergangene Verteilungsentwicklung, so haben sich die
Unternehmer und Vermögenseigentümer auf Kosten der abhängig Beschäftigten
massiv bereichert. Die Lohnquote sinkt seit Jahrzehnten und ist in den letzten
Jahren geradezu abgestürzt. Um allein die effektive Verteilung des
Volkseinkommens zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen des Jahres 2000 wieder
herzustellen, wäre 2007 eine Steigerung der Beschäftigten-Einkommen von fast 13
Prozent nötig. Es wäre ein Zeichen ökonomischer Vernunft, wenn in diesem Jahr
zumindest der verteilungsneutrale Spielraum in den Tarifauseinandersetzungen
voll ausgeschöpft werden würde. Wenn dies nicht gelingt, wird sich die
Arbeitsmarktkrise von der lohnpolitischen Seite aus schnell wieder verschärfen.
(…)
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert schon seit Jahren ein
umfangreiches öffentliches Investitionsprogramm. Schon mit einem
Einstiegsvolumen von jährlich 40 Milliarden Euro könnten ca. eine Million
Arbeitsplätze geschaffen werden. Darüber hinaus würde eine Wende in der
anhaltend dramatischen Unterfinanzierung von wichtigen Zukunftsbereichen
(Bildung, Umwelt, Infrastruktur) eingeleitet. Wichtige Bausteine dieses
Investitionsprogramms sind auch Projekte zum - offiziell immer geforderten,
faktisch aber vernachlässigten - ökologischen Umbau: zur dezentralen Versorgung
mit erneuerbaren Energien, zum Ausbau des ÖPNV, zur Stadtsanierung, der
Umstellung der Landwirtschaft auf ökologisch verträgliche Produktion etc. Mit
dem wichtigen Impuls für mehr Beschäftigung kann ein solches Programm auch der
Verunsicherung und Einschüchterung vieler Menschen entgegenwirken. Dies würde
ihre Widerstandskraft in den Betrieben und Branchen stärken und die Chancen für
bessere Tarifabschlüsse steigern.
Noch schneller und direkter als Investitionen in Infrastrukturen, Bauten und
andere stoffliche Produktionsanlagen wirken Programme zur Ausweitung und
Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen auf die Beschäftigung. In vielen
Fällen sind öffentliche Investitionen im traditionellen Sinn überhaupt nur
sinnvoll, wenn zugleich zusätzliches Personal eingestellt wird. Die öffentliche
Hand spielt aber seit vielen Jahren eine Vorreiterrolle bei der Vernichtung von
Arbeitsplätzen. Sie hat zwischen 1996 und 2004 über 800 000
Vollzeitarbeitsplätze abgebaut. Die Folgen für die Gesamtbeschäftigung und für
die Bereitstellung öffentlicher Güter sind gravierend. Letztere fallen in
erster Linie bei denen an, die auf öffentliche Dienstleistungen wegen niedriger
Einkommen oder sonstiger schwacher sozialer Positionen besonders angewiesen
sind. Für sie ist Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst sehr oft
gleichzusetzen mit Sozialabbau.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schlägt vor, dass der
öffentliche Sektor im Rahmen einer neuen demokratischen Wirtschaftspolitik zu
einer Hauptgrundlage für neue Arbeitsplätze und eine Aufwertung öffentlicher
Dienstleistungen gemacht wird. Mit 30 Milliarden Euro pro Jahr könnten rund
eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen werden: In der Kinderbetreuung, den
Schulen, Hochschulen und der Weiterbildung, in den Gesundheits- und
Pflegediensten. Gleichzeitig sollte der öffentliche Dienst entbürokratisiert
und demokratisiert sowie gegenüber der Öffentlichkeit transparenter und
zugänglicher gemacht werden.
Ein-Euro-Jobs helfen nicht
Die Lösung der Arbeitsmarktprobleme kann weder in einer Verbesserung des
Vermittlungsprozesses noch in der Verdrängung von Arbeitssuchenden in die
Stille Reserve liegen. Vielmehr muss zunächst das gesellschaftliche
Arbeitsvolumen durch eine geeignete Beschäftigungspolitik erhöht und
gleichzeitig Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung umverteilt werden. Für eine
Übergangszeit sind zum Abbau der Unterbeschäftigung aber auch
arbeitsmarktpolitische, Beschäftigung schaffende Instrumente notwendig.
Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, ist ein richtiger Gedanke, der
klassischen Instrumenten wie ABM und Strukturanpassungsmaßnahmen zugrunde lag.
Mit der jetzigen Praxis der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung
(Ein-Euro-Jobs) wird dieser Gedanke jedoch in sein Gegenteil verkehrt. Anstatt
Arbeitslose durch regulär bezahlte und rechtlich abgesicherte Beschäftigung in
die (Arbeits-)Gesellschaft zu integrieren, wird mit der bloßen Gewährung einer
Mehraufwandsentschädigung und in vielfältiger Weise ungesicherten
Sozialrechtsverhältnissen die geleistete Arbeit in diesen Arbeitsgelegenheiten
abgewertet. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert daher die
Abschaffung der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung und
stattdessen die Einführung eines neuen Finanzierungsinstrumentes für öffentlich
geförderte Beschäftigung.
Dieses Instrument soll aus Mitteln des Bundes und einer Beteiligung der
Kommunen eine Basisfinanzierung bereit stellen, die Träger öffentlich
geförderter Beschäftigung wie Vereine, soziale Projekte,
Beschäftigungsgesellschaften, Kommunen etc. nutzen können, um im öffentlichen
Interesse liegende zusätzliche Tätigkeiten zu organisieren, die nicht zu den
Aufgaben des öffentlichen Dienstes gehören und auch nicht wirtschaftlich durch
Unternehmen erbracht werden können. Dabei muss es sich um reguläre, den
jeweiligen Tarifbestimmungen unterliegende, voll sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse handeln. Allerdings sollen sie befristet
eingerichtet werden, um zum einen bei eher experimentellen Arbeitsfeldern die
Sinnhaltigkeit und Nutzung immer wieder überprüfen zu können; zum anderen
sollte dieses Instrument nur solange eingesetzt werden, wie der regionale
Arbeitsmarkt nicht hinreichend funktionsfähig ist. Tätigkeiten, die sich auf
Dauer als notwendig und wichtig erweisen, müssen perspektivisch in den
öffentlichen Dienst überführt bzw. als reguläre Aufgaben der öffentlichen Hand
finanziert werden. Gerade in heute strukturschwachen Regionen gibt es eine
Fülle von Aufgaben, beispielsweise in der Pflege von Kulturgütern oder der
Umwelterhaltung, wo heutige Versäumnisse wegen fehlender finanzieller
Ressourcen zum Teil zu unwiederbringlichen Verlusten führen, wo in
wirtschaftlich besseren Zeiten aber regulär öffentlich finanzierte
Aufgabenfelder oder selbsttragende wirtschaftliche Strukturen, wie im
Tourismus, entstehen können.
Seit Mitte der 1970er Jahre geht die Produktions-Produktivitätsschere immer
mehr auseinander. Die jährlichen realen Wachstumsraten des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) fallen geringer aus als die
Produktivitätszuwachsraten. Dies wird auch in Zukunft der Fall sein. Das
gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen geht daher zurück. Die deutsche Wirtschaft
ist zwischen 1991 und 2006 real um gut 24 Prozent gewachsen, während die
Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde um über 32 Prozent stieg. Das
Arbeitsvolumen ist daher um acht Prozent gesunken. Dieser Rückgang um über vier
Milliarden Arbeitsstunden ist aber nicht - wie es ökonomisch und sozial
vernünftig gewesen wäre - durch eine tarifvertragliche Verringerung der
individuellen Arbeitszeiten aller Beschäftigten organisiert worden. Er hat
vielmehr als drastischer Anstieg der offenen und verdeckten Arbeitslosigkeit
und der - zum Teil unfreiwilligen - Teilzeitarbeit stattgefunden. Die
Alternative zu dieser in jeder Hinsicht schädlichen Entwicklung kann nicht in
einer Förderung des Wirtschaftswachstums um jeden Preis liegen. Dies wäre
ökonomisch kaum möglich, es wäre aber vor allem ökologisch schädlich und
unverantwortlich. Aus beiden Perspektiven sind weitere Arbeitszeitverkürzungen
zur Verarbeitung von - überwiegend wünschbaren - Produktivitätssteigerungen
daher unumgänglich. Es wäre ein großer gesellschaftlicher Fortschritt, wenn sie
nicht in chaotischer und polarisierender Form abliefen, sondern zu einem
zentralen Orientierungspunkt staatlicher und gewerkschaftlicher Politik würden.
(…)
Macht und Einfluss
Die vorstehenden Vorschläge (…) sind finanzierbar und bereiten von der
technisch-instrumentellen Seite keine unüberwindbaren Probleme, wenn auch die
Schwierigkeit und Komplexität ihrer zielgenauen Umsetzung nicht unterschätzt
werden sollten. Die Tatsache, dass diese Vorschläge nicht aufgegriffen werden,
ist jedoch nicht auf diese Schwierigkeiten zurückzuführen.
Die Gründe hierfür liegen vielmehr in dem massiven und wirksamen Widerstand
derer, die von der herrschenden Politik profitieren und über viel Macht und Einfluss
verfügen, um ihre Interessen der Politik, den Medien und dem größten Teil der
Wissenschaft als alternativlos zu präsentieren. Das sind im Wesentlichen die
großen Konzerne und Finanzinstitute sowie die sehr kleine Schicht sehr reicher
Personen und Familien. Immerhin hat die (wissenschaftliche) Kritik an den
Aussagen und der Politik des Neoliberalismus zugenommen und der Protest in der
Gesellschaft gegen die herrschende Wirtschafts- und Sozialpolitik wächst. Die
Chancen für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel werden in dem Maße größer,
wie Kritik und Protest sich mit einleuchtenden Vorstellungen über eine sozial
gerechtere, ökologisch nachhaltigere und ökonomisch leistungsfähige Struktur
und Steuerung der Wirtschaft verbinden. (…)
[ document info ]
Copyright © FR-online.de 2007
Dokument erstellt am 26.04.2007 um 19:44:01 Uhr
Letzte Änderung am 26.04.2007 um 21:35:47 Uhr
Erscheinungsdatum 27.04.2007