Der Hessenkrimi
26.11.2008 20:13
Am 3.11.2008 haben vier SPD-Abweichler eine rot-grüne
Koalition - mit Duldung der LINKEN - in Hessen zu Fall gebracht. Wer steckt
hinter den "vier Musketieren"?
Was ist von dem Last-Minute-Gewissen zu halten?
Was wie eine (Gewissens-)Not ausehen soll, wurde
lange eingefädelt und gut geplant.
Der_Hessenkrimi
Wie sich bis zum 3.November fast unbekannte
hessische Landtagsabgeordnete in die bundesdeutsche Geschichte_eingeschrieben_haben.
Die Landtagswahlen vom 27.Januar 2007 endeten mit einer parlamentarischen
Patt-Situation: weder die CDU um Ministerpräsident Koch war zusammen mit dem
Wunschpartner FDP in der Lage eine Regierungskoalition zu bilden, noch hatte
die siegreiche Herausfordererin Andrea Ypsilanti von
der SPD eine stabile Mehrheit für eine rot-grüne Koalition. Die SPD hatte mit
einem Linkskurs und Ausgrenzungserklärungen gegen die LINKE versucht, diese
Partei durch das Gewinnen von deren potenziellen WählerInnen
aus dem Landtag draußen zu halten. Die LINKE zog jedoch mit knappen 5,1 Prozent
gleichzeitig mit Niedersachsen erstmals in die Parlamente westdeutscher Flächenlander ein. Nach einem harten Wahlkampf zwischen
"rechtem" und "linkem" Lager und dem dezidierten Wahlziel
der SPD, Koch abzulösen, war eine rechnerisch mögliche große Koalition
ausgeschlossen. Nach den Turbulenzen um den ersten Versuch von Andrea Ypsilanti, die Bedingungen für eine Mehrheit links von CDU
/ FDP auszuloten, wurden das sogenannte
"Magdeburger Tolerierungsmodell" vorerst zurückgestellt. Roland Koch
blieb daher mit seiner CDU-Regierung geschäftsführend im Amt, nachdem in der
konstituierenden Sitzung am 5.April keine Gegenkandidatin vorgeschlagen wurde.
Die hessische SPD - einer muss der Bluthund werden
Als der ehemalige Bundeswirtschaftsminister der SPD Wolfgang Clement in der
"Welt am Sonntag" verkündete, dass er vor der Stimmabgabe für Ypsilanti warne, weil sie zum Beispiel den Ausstieg aus der
Atomenergie wolle, wurde deutlich, dass ein "wirtschaftsfreundlicher,
konservativer" Parteiflügel in Verbindung mit einer neoliberalen
SPD-Kamarilla in der Wirtschaft den Kurs des überwiegenden Teils der hessischen
SPD heftig bekämpft.
Der hessische Kronprinz dieses Bündnisses in der
SPD aus Konservativismus, Mittelständigkeit und Marktradikalismus war Jürgen
Walter, der nach dem Willen dieses Bündnisses 2006 SPD-Landesvorsitzender und
Spitzenkandidat für die Landtagswahlen 2008 werden sollte, auch nach Wunsch
seiner politischen Ziehväter Gerhard Bökel,
ehemaliger Innenminister in Hessen, und Lothar Klemm, ehemaliger
SPD-Wirtschaftsminister in Hessen - heute Aufsichtsratsmitglied der FRAPORT-AG.
Walter blieb stellvertretender Landesvorsitzender und war im Schattenkabinett Ypsilantis als Innenminister vorgesehen. Gegen die anfängliche
Berichterstattung der Massenmedien und frühe Umfragewerte gelang es der SPD mit
einem glaubwürdigen linksreformistischen Kurs fast acht Prozent Wähler
hinzuzugewinnen. Andrea Ypsilanti war daher nach der
Landtagswahl innerparteilich gestärkt, und vorerst noch nicht angreifbar.
Als sie dann ankündigte, eine
Minderheitsregierung mit der Tolerierung der LINKEN anzustreben, und der
Bundesvorsitzende Beck dies duldete, begann der mediale und innerparteiliche
Kampf um die Dominanz in der SPD. Im März wurden Grundsatzerklärungen vom
rechten Seeheimer Kreis und dem neoliberalen
"SPD-Netzwerk" gegen eine Zusammenarbeit mit der LINKEN auch in den
Länderparlamenten verabschiedet. Jürgen Walter versuchte auf dem
Landesparteitag am 29.3.2008 für die Option einer großen Koalition zu werben,
und erntete dafür Buhrufe und wenig Beifall. In Hessen erstarrten die Fronten
in und zwischen den Parteien nach dem Motto "wer sich zuerst bewegt, hat
verloren".
Daran änderten einzelne Ausfälle von Politikern
wie Jürgen Walter nichts (der im Juni in der Bild-Zeitung für eine große
Koalition warb), deren Zweck ausschließlich darin bestand, den
innerparteilichen Gegner aus seiner Stellung zu locken. Allerdings bewegte sich
Hessen auf einen seiner größten innenpolitischen Konflikte zu: der Ausbau des Frank-furter_Flughafens.
Der Flughafen Frankfurt als "nationale Aufgabe"
Kurz vor der Landtagswahl hatte der CDU-Wirtschaftsminister noch den
Planfeststellungsbeschluss für eine der größten Baustellen Europas - die Nordwestlandebahn
im Kelsterbacher Wald - erlassen, der der FRAPORT als Bauherrin durch den
Sofortvollzug die Möglichkeit gab, mit den vorbereitenden Arbeiten für die
Rodung von 250 Hektar Wald zu beginnen. Seit dem Sommer 2008 begannen
Arbeitstrupps der FRAPORT mit Vermessungen, spürten Kampfmittel auf und holzten
das Unterholz ab: die FAG will noch vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens
im Sommer 2009 mit der Rodung und Baubeginn vollendete Tatsachen schaffen.
Das Flughafenausbau-Kartell fürchtet in
Erinnerung an die Tiefe und Breite der politischen Auseinandersetzungen um die
Startbahn West 18 eine unkontrollierbare Dynamik der Kosten des Konflikts. Der
Ausbau ist mit einem geschätzten Investitionsvolumen von 4 bis 8 Milliarden
Euro Deutschlands größtes Infrastrukturprojekt. Nachdem sich weder durch das Mediationsverfahren, noch im Regionalen Dialogforum der
Konflikt entschärfte, sich weder der BUND seine Klage für 2,5 Mio Euro abkaufen ließ, noch die Kommunen in
Geheimverhandlungen zum Klageverzicht bewegt werden konnten, stehen nun
insgesamt 260 Klagen von Kommunen, BUND und Privatpersonen gegen den
Planfeststellungsbeschluss des Wirtschaftsministeriums an, von denen
ausgewählte Musterklagen im Sommer 2009 vor dem Verwaltungsgerichtshof
verhandelt werden sollen.
Dem Ausbau-Kartell steht vor Gericht ein
juristisch und wissenschaftlich gleichwertiger oder überlegener Gegner
gegenüber, der zusätzlich mit den seit Oktober rückläufigen Fluggast- und
Frachtgutzahlen betriebswirtschaftlichen Rückenwind erhält. Die politische
Baugenehmigung der CDU-Landesregierung, die schon das Forstgesetz viermal
änderte, um der FRAPORT gefällig zu sein, beinhaltete nicht nur den
Sofortvollzug, sondern schuf gegen die Ergebnisse des Mediationsverfahrens
und den parteiübergreifenden Befriedungskonsens "Kein Ausbau ohne
Nachtflugverbot" aus dem Jahr 2000 ein Einfallstor, um das Nachtflugverbot
zu torpedieren, indem es 17 Flüge in der Kernzeit von 23 bis 5 Uhr genehmigte,
und in den Randzeiten bis zu 150 Flüge gestattete.
Der CDU wurde von den Ausbaugegnern
"Wortbruch" vorgeworfen, eine Vokabel, die wenig später in anderen
Zusammenhängen Karriere machen wird. Als am 27.1.2008, etwas mehr als einen
Monat nach der Baugenehmigung, Andrea Ypsilanti die
Siegerin der Landtagswahlen war, titelte die FAZ "Die Wahlverlierer heißen
FRAPORT und K+S". Für das Ausbau-Kartell steht "die wichtigste
landespolitische Entscheidung" (Roland Koch) auf dem Spiel, und gegen
diese Gefahr entwickelte sich jetzt eine politische Intrige gegen die Linke in
der hessischen SPD, mit einer durchaus_gewollten_bundespolitischen_Signalwirkung.
Die politische Intrige gegen die linke SPD
Im Juni 2008 wurde bekannt, dass die Gutachten, die SPD und die Grünen
unabhängig voneinander in Auftrag gegeben haben, um zu untersuchen, ob aus dem
Parlament heraus Möglichkeiten bestehen, den Planfeststellungsbeschluss für den
Flughafenausbau zu verändern,
vorlagen.
Beide Gutachten kamen zum Ergebnis, dass nur
eine Regierung begrenzte Möglichkeiten hat, die Baugenehmigung zu beeinflussen.
Noch vor einer Stellungnahme der SPD-Fraktion meldete sich Jürgen Walter im
Landtag zu Wort und sagte, dass die SPD den Planfeststellungsbeschluss für
rechtmäßig hält und juristisch nicht angreifen werde, was insbesondere bei den
Grünen für Überraschung sorgte.
Jürgen Walter, den man durchaus "FRAPORTs Mann bei der SPD" nennen könnte, hat nicht
zum ersten Mal auf der Seite von CDU und FDP Position bezogen, und wird
mehrmals in Regierungs- oder Presseerklärungen der CDU wegen seiner Haltung zum
Flughafenausbau lobend erwähnt. Für die Grünen waren die Ergebnisse der
Rechtsgutachten Anlass, das rot-rot-grüne Tolerierungsmodell in den Raum zu
stellen.
Die CDU reagierte umgehend mit Warnungen an SPD und die Grünen, den weiteren
Ablauf des Flughafens nicht in Frage zu stellen. Es gehört nicht viel Fantasie
dazu sich vorzustellen, dass diese Nachrichten aus dem Landtag beim
Ausbau-Kartell beunruhigend wirkten. Seit Ende Mai steht im Kelsterbacher Wald
zusätzlich noch ein Hüttendorf, und für eine Politik, die alle möglichen
Risiken möglichst kostensparend ausschalten wollte,
wäre eine "rot-grüne" Minderheitsregierung in der Phase des
eskalierten Konflikts bei Rodungsbeginn im Februar 2009 ein großer
Unsicherheitsfaktor.
Die FRAPORT plant nach dem Eilverfahren im
Januar - Ausbaugegner haben auf vorläufigen Rechtsschutz geklagt - den Wald zu
roden. Weil sie innerhalb der Wachstumsperiode von März bis November nicht
roden darf, fürchtet sie jede weitere Verzögerung durch die Gerichte. Dieses
Bedürfnis des Ausbau-Kartells nach "Verfahrenssicherheit" trifft sich
mit dem innerparteilichen Interessen des
"rechten" Flügels in der SPD - und die personelle Schnittstelle
dieser Interessen ist Jürgen Walter.
Anfang August kam es zu einem
"Geheimtreffen" von Vertretern beider Flügel: Jürgen Walter, Nina
Hauer, Carmen Everts, Gerrit Richter und Nancy Faeser
(rechter Flügel) mit Andrea Ypsilanti, Gernot
Grumbach und Norbert Schmitt (linker Flügel). Die Grundaussage des
"rechten Flügels" ist überraschend: sie sehen keine Alternative mehr
zum Tolerierungsmodell, stellen aber Bedingungen an die Zusammenarbeit mit der
LINKEN, diese Kriterien sollten gemeinsam von Jürgen Walter und Andrea Ypsilanti vorgestellt werden. Man stellte gemeinsam einen
innerparteilichen Fahrplan auf. In einem Interview mit der FAZ vom 16.8.2008
rechtfertigte Jürgen Walter diesen Gesinnungswandel damit, dass dies die
"einzige Möglichkeit der Regierungsbildung" wäre. Carmen Everts wird
Mitautorin des Kriterienkatalogs, der der LINKEN vorgelegt werde soll, und
Bedingungen an eine Zusammenarbeit formuliert, wie ein Bekenntnis zu Demokratie
und Verfassungsschutz und eine "Distanzierung vom SED-Unrecht".
Nach allen Äußerungen, die Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts inzwischen auf der Pressekonferenz
am 3.November (Die Zeit vom 4.11. "Gestern sagte Frau Everts, sie habe
insgeheim gehofft, die Linkspartei würde diesen Katalog ablehnen" ), in
der ARD-Sendung "Beckmann" am 10.11. oder in Interviews mit der
Frankfurter Rundschau vom 15.11.2008 machten, in denen sie ihre "Hoffnung
auf das Scheitern der Koalitionsverhandlungen, Ausstieg bei Abschluss dieses
Prozesses, in den Koalitionsverhandlungen"(Carmen Everts) oder ihre
"Suche nach den Sollbruchstellen"(Silke Tesch
bei Beckmann;wortgleich nannte der FDP-Vorsitzende
Hahn Anfang September den Flughafenausbau "die Sollbruchstelle" der
Koalitionsverhandlungen von SPD und Grünen, FAZ 4.9.08) verrieten, und als
politisches Ziel ihrer "Aktion schwarzer Montag" eine große Koalition
angaben ("Wir wollten eine Regierung ohne Betiligung
der Linkspartei", "Wir wollten keine Neuwahlen"Dagmar
Metzger, Carmen Everts), erhärtet sich die Vermutung, dass zumindest diese
Gruppe, jedoch nicht der ganze "rechte" Flügel, eine Doppelstrategie
fuhr: die linke Parteiführung zu Koalitionsverhandlungen mit Grünen und
Tolerierungsgesprächen mit der LINKEN ermutigen, um sie in diesen Verhandlungen
an den Widersprüchen zwischen und in den beteiligten Parteien scheitern zu
lassen.
Das Kalkül dieser Gruppe war vermutlich richtig,
dass nur nach diesem Scheitern die Möglichkeit einer großen Koalition wieder offengestanden hätte, rechtzeitig vor dem anstehenden
Konflikt um die Rodung und den Flughafenausbau - deswegen stand die Gruppe
unter Zeitdruck, und konnte nicht auf ihre Chance warten, wenn die
Minderheitsregierung von Grünen und SPD im politischen Geschäft ist. Zur
Überraschung dieser Gruppe nahmen die Verhandlungen jedoch zügig alle Hürden -
die LINKEN akzeptierte den Kriterienkatalog der SPD, und innerhalb der Grünen
und der SPD stellten sich in den Gremien die Parteien mit überragenden
Mehrheiten hinter den Linksregierungskurs. Die Hoffnungen der Gruppe mussten
sich zuletzt auf den 23.10.2008 konzentrieren, den letzten Tag der
Koalitionsverhandlungen, an dem der Flughafenausbau diskutiert und die Ressorts
personell besetzt_werden
sollten.
Mit den Worten "Wir Sozialdemokraten sind
nicht angetreten, um Hessen unter Naturschutz zu stellen" ging Jürgen
Walter als Mitglied der Verhandlungsdelegation forsch und auf Konfrontationskurs
gegen die Grünen in die Verhandlung - und kam am Ende als großer Verlierer
wieder heraus. Weder hatte er das Wirtschaftsministerium erhalten, mit dem er
Herr über das Baugenehmigungsverfahren gewesen wäre, er hatte die Koalition
nicht zum Scheitern gebracht, noch konnte er verhindern, was die
Koalitionspartner überraschend ausgehandelt haben: die FRAPORT wurde ultimativ
aufgefordert, bis zu 15.November 2008 zu erklären, dass sie den Sofortvollzug
(den Beginn der Rodungs - Bauarbeiten) aussetzt,
ersatzweise würde das Wirtschaftsministerium den Sofortvollzug gemäß § 80 Abs.4
VwGO bis zum Abschluss aller Gerichtsverfahren
aussetzen. Ergänzend beabsichtige die Landesregierung, ein ergänzendes
Verfahren zur Umsetzung eines absoluten Nachtflugverbotes einzuleiten
(Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen).
Zusammen mit der personellen Besetzung des
Ministeriums mit dem SPD-Linken Herrmann Scheer und als Staatssekretär den
Ausbaugegner Frank Kaufmann (Grüne), der den Ausbaubefürworter Güttler (SPD) ersetzen sollte, war der worst
case für das Ausbau-Kartell eingetreten.
Vorstandschef Bender reagierte sofort ablehnend
(24.10.08) und beauftragte die Hauskanzlei mit einer juristischen Prüfung des
Koalitionsvertrags. Was folgte, war eine pressure campaign, wie sie im Buche steht: sofort meldeten sich die
Parteien CDU und FDP mit drohenden Untergangsszenarien für den
Wirtschaftsstandort Hessen zu Wort, Verlust zehntausender Arbeitsplätze, der
finanzielle Ruin des Bundeslandes drohe, flankiert von den
Wirtschaftsverbänden: auf dem Hessischen Unternehmertag am 28.10.2008 versprach
der Aufsichtsratsvorsitzende der Commerzbank und Chef des Bundesverbandes
deutscher Banken dem FRAPORT-Chef Wilhelm Bender:
"Wir werden mit ihnen mutig, entschlossen und entschieden dafür kämpfen,
dass dieser Flughafen ausgebaut wird, und zwar so schnell wie möglich."
In allen Printmedien, Radiostationen und
Fernsehsendern meldeten sich Konzernchefs, Verbände und Experten zu Wort: BDI,
BARIG (Verband von Fluggesellschaften), Bankenverband, Industrie- und
Handwerkskammern, Heraeus, Lufthansachef Mayrhuber, Arbeitgeberverband Chemie, BjU
(Junge Unternehmer), Bauindustrie, Gesamtmetall Hessen, um eindringlich vor dem
Zustandekommen der rotgrünen Regierung zu warnen, und das drohende Ende des
Flughafens als internationale Drehscheibe und Jobmotor zu beschwören. Besonders
pikant ist der viel zitierte Betriebsratsvorsitzende der Fraport
Peter Wichtel, der als Arbeitnehmervertreter und Aufsichtsratsmitglied mit
gegen Rotgrün kämpfte, ohne dass öffentlich erwähnt wurde, dass Peter Wichtel
im CDU-Landesvorstand sitzt und Mitglied der CdA ist,
und inzwischen als erster Arbeitnehmervertreter den Preis "Soziale
Marktwirtschaft" der Konrad Adenauer Stiftung erhalten hat.
Auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats der
FRAPORT am 31.10.2008 wurde mit einer Enthaltung die Forderung der zukünftigen
Landesregierung nach Aussetzung des Sofortvollzugs abgelehnt, mit hohen
Schadensersatzforderungen gedroht, und die Rechtmäßigkeit des Koalitionsvertrages
bestritten. Für das Ausbau-Kartell wurde auch der Universitätspräsident Rudolf
Steinberg als Fachmann für Verwaltungsrecht an Bord geholt, um die
Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Regierung in spe zu bezeugen. Die
öffentliche Diskursmaschine ist nur die Spitze dessen, was informell und intern
in Bewegung gesetzt wurde, um den stillen Druck auf die zukünftige
Linksregierung zu erhöhen.
Die Bundesführung der SPD hatte den Kurs der Hessen-SPD zwar kritisiert, hielt sich aber öffentlich
zurück. Inoffiziell gab es zumindest am letzten Tag der
Koalitionsverhandlungen, dem 23.10.2008 direkte Kontakte zwischen
"rechter" Berliner SPD-Führung und der Gruppe um Jürgen Walter: Sigmar Gabriel aus dem Leitungskreis der Seeheimer und Bundesumweltminister weilte im Marburger
Wahlkreis bei Silke Tesch (Oberhessische Presse), der
Adlatus von Müntefering Kajo Wasserhövel,
Bundesgeschäftsführer der SPD und Wahlkampfleiter, in Riedstadt bei Frau Carmen
Everts (Darmstädter Echo). Wahrscheinlich nahm die "Aktion schwarzer Montag"
erst nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen langsam Form an, sie war der
Notausgang aus einer gescheiterten Intrige, dem Scheitern der Strategie, die
Koalition an ihren inneren Widersprüchen zerschellen zu lassen. Ob mit der
Zustimmung der Parteiführung bleibt dahingestellt; auch die Beratung mit Herrn Bökel am Freitag, den 31.10.2008 hatte anscheinend nicht
zum Ergebnis, von diesem Schritt Abstand zu nehmen, Gerhard Bökel
informierte nicht die hessische SPD-Führung, sondern den CDU-Innenminister
Volker Bouffier. Die innerparteilichen
Einflussmöglichkeiten der Gruppe um Walter waren nach den
Koalitionsverhandlungen erschöpft: trotz aller Bedenken und Kritik trug der
"rechte Flügel", der drei Ministerien erhalten hatte, den
Regierungswechsel mit. Wenn sie die rot-grüne Minderheitsregierung und die
Verzögerung des Flughafenausbaus noch verhindern wollten, blieb ihnen nur noch
rechtzeitig vor der letzten Probeabstimmung in der_Fraktion_die_öffentliche_Aktion.
Aktion schwarzer Montag
Schon Wochen vor dem Abstimmungstermin wurde befürchtet oder vom politischen
Gegner erhofft, dass Andrea Ypsilanti ein ähnliches
Schicksal wie Heide Simonis in Schleswig Holstein erleiden könne. Roland Koch
äußerte schon am 16.8.2008 in der Wirtschaftswoche, dass ein Scheitern von
Andrea Ypsilanti alles einfacher machen werde, und
man danach alle Konstellationen prüfen werde, im Focus vom 23.10.2008 glaubte
er, dass Andrea Ypsilanti noch nicht am Ziel wäre.
Auch die FDP erhoffte sich ein Scheitern von Andrea Ypsilanti
in der Abstimmung: "Hochmut kommt vor dem Fall, der Fall von Andrea Ypsilanti wird am 4.November bei der geheimen Abstimmung im
hessischen Landtag deutlich werden" (FDP-Presseerklärung von Jörg Uwe Hahn
vom 25.10.2008). Unabhängig davon, dass es eine Strategie war, die SPD nervös
zu machen, war die CDU und FDP anscheined über die
Haltung von SPD-Abgeordneten informiert: auch hier fällt der Verdacht speziell
auf Jürgen Walter.
Die linke SPD-Führung glaubte anscheinend trotz
aller Befürchtungen, die Abgeordneten durch Probeabstimmungen, Parteibeschlüsse
und Kabinettsposten in die Partei-, Fraktions- und Kabinettsdisziplin einbinden
zu können. In einer Presseerklärung vom 31.10.2008 nannte eine Presserklärung
der BI gegen Flughafenerweiterung die vier Personen namentlich, die aus eigenen
Machtinteressen die Wahl einer Linksregierung verhindern könnten. Den
Bürgerinitiativen waren von gut informierter Seite die Namen genannt worden.
Das Misstrauen gegen diese vier Abgeordneten war in der letzten Woche anscheinend
förmlich mit Händen zu greifen, und es ist erstaunlich, dass die linke
SPD-Führung weiter glaubte, die Abstimmung zu gewinnen: offensichtlich traute
man den verdächtigten Abgeordneten eine solche Aktion nicht zu, die sie dem
Risiko aussetzen würde, alle Parteiämter zu verlieren. Umso überraschender traf
die Aktion schwarzer Montag die hessische SPD, und dies, obwohl das Vorwort des
Zeit-Chefredakteurs Di Lorenzo vom 31.10.2008 unter Herausgeber Helmut Schmidt
fast wie ein Aufruf zum Königinmord war: indem er die Linksregierung als
"linker Putsch gegen den Wählerwillen","Betrug
am Wähler" bezeichnete und damit delegitimierte,
rechtfertigt er jede Notwehrreaktion, die diesen "Pakt mit der
Linken" verhindern und einen Neuanfang ermöglichen würde. Dieses Vorwort
ist ein vorauseilender Adelsschlag für die "Vier Rebellen" oder
"vier Musketiere", wie sie später von der Presse liebevoll getauft
werden. Und wieder ist FORSA- das Meinungsforschungsinstitut, dessen Chef
Manfred Güllner und Schröderfreund auch schon mal
Becks Rücktritt forderte, zur Stelle, um die entsprechenden Umfragen zu liefern
- wahlweise 66 Prozent oder auch achtzig Prozent lehnen eine Tolerierung von
Rot-Grün durch die LINKE in Hessen ab.
Die Fassungslosigkeit in der SPD über die
Dreistigkeit der Aktion, die jede Loyalität und Solidarität mit den Füssen
tritt, entstand auch, weil sie ein symbolischer "Verwandtenmord" war.
Die vier Abgeordneten waren in Bezirksvorständen, Ortsvereinen und Kreistagen
zu Hause, sie waren "Fleisch vom Fleisch der SPD", und insofern war
die Aktion äußerst wirkungsvoll: sie lähmte, entmutigte, und sorgte für
heillose Verwirrung. Allerdings hatten die vier "aufrechten
Lichtgestalten" nicht damit gerechnet, dass nicht alle Menschen ihren
Verstand bei spiegelonline und FAZ abgegeben haben, sondern instinktiv den
Zusammenhang mit dem Flughafenausbau herstellten, symbolisch mit den am
3.11.2008 steigenden FRAPORT- Aktien: am Morgen des 3.11. tendierte die Aktie
schon fünf Prozent positiv, schon um 11.50 Uhr, eine Stunde vor der
Pressekonferenz, stieg die Aktie von Fraport um 13,35
Prozent, nachdem die erste dpa-Meldung die Runde machte (ad-hoc-news,
3.11.2008). Und nicht alle waren politischer Amnesie verfallen, sondern
erinnerten sich an ähnliche Fälle aus den siebziger Jahren, als 1970 - 72 eine
groß angelegte Aktion die sozialliberale Koalition von Willy Brandt beenden
sollte, und Abgeordnete der FDP mit hoch dotierten Beraterverträgen und
Listenplätzen bei CDU / CSU für ihr Überlaufen belohnt werden sollten.
Und an 1976, als im Niedersächsischen Landtag,
wo in anonymer Abstimmung wahrscheinlich auch FDP-Abgeordnete für den Sturz des
SPD-Ministerpräsidenten sorgten und Ernst Albrecht (CDU) an die Macht brachten.
Die Aktion selbst hatte selbst für neutrale Beobachter offensichtliche
Widersprüchlichkeiten: zu sehr widersprach ihr Timing dem fairen Umgang, zu
sehr war bekannt, dass die Abgeordneten monatelang an der Regierungsbildung
aktiv mitgewirkt haben, und merkwürdig spät ihr Gewissen entdeckt haben. Die
Presseöffentlichkeitsshow im Dorinthotel mit
Personenschützern vom Innenministerium hatte den faden Beigeschmack einer
Inszenierung, die bemüht den politischen Kern des Unternehmens verbergen will.
Wie sich ein Kenner von Jürgen Walter aus
Juso-Zeiten ausdrückte: Jürgen Walter und Gewissen sind zwei Dinge, die sich
bisher gegenseitig ausschlossen. Die Flucht ins Nachbarland und die
Einwegkommunikation über die FAZ sah mehr wie ein Schutz vor unangenehmen
Fragen aus, als einer vor Gefahr für Leib und Leben. Die Stimmung in Hessen
schwang sofort vollständig zu "Neuwahlen" um, und ließ nicht zu im
Schatten der Verwirrung die CDU-Herrschaft für weitere vier Jahre zu
zementieren, und die Parteien mussten diesem Druck der öffentlichen Meinung
sehr schnell nachgeben. In den Leserbriefspalten, auf Internetforen und Blogs wütet seit dem 3.11.2008 ein erbitterter Kampf um
Meinungsführerschaft über die Interpretation der Ereignisse und ihrer Motive,
und es tobt sich dort ein vulgärer Sexismus und "Antikommunismus"
aus, die durch das permanente autoritäre Mobbing von
Andrea Ypsilanti in den Massenmedien aufgeheizt wird.
Auch wenn diese Konsequenzen von den Akteuren der Intrige beabsichtigt waren,
bekamen sie eine Dynamik, die außer Kontrolle geriet: die politische Kritik an
den vier Abgeordneten und ihren Hintermännern lässt nicht nach, und der
"rechte" Flügel geht in_Hessen_aus_dieser_Aktion_geschwächt_hervor.
Die Walter-Gruppe bekommt respektvolle Zustimmung vom politischen Gegner und
erntet wütende Reaktionen in ihrer Partei: für viele Sozialdemokraten ist die
Intrige ein Lehrstück für Unverfrorenheit und Hinterhältigkeit. Die Intriganten
hatten dennoch die zwei wesentlichen Ziele mit maximalen Schaden für die SPD
erreicht: sie hatten eine rotgrüne Minderheitsregierung verhindert, und dem
Flughafen-Kartell seine Ausbaupläne gesichert.
SPD-Kamarilla im Interesse des Kapitals
Wolfgang Clement, der ehemalige Wirtschaftsminister, der Hartz
IV-Empfänger Parasiten und Schmarotzer nannte, gehört zu einer ganzen Riege von
Sozialdemokraten wie Lothar Klemm (Aufsichtsrat FRAPORT), Alfred Tacke (Vorstandsvorsitzender STEAG), Hermann Borghorst
(Arbeitsdirektor Vattenfall) oder der
Wirtschaftsminister aus Schröders Kabinett Werner Müller, jetzt
Aufsichtsratsvorsitzender der Bahn AG und Vorstandsvorsitzender der RAG, oder
dem "Genosse der Bosse" Gerhard Schröder (Aufsichtsratsvorsitzender
des NEGP-Konsortiums von Gazprom,
Eon und BASF),die in die Energiewirtschaft oder
ehemaligen Staatskonzerne_befördert_wurden.
Wolfgang Clement, meldete sich nach dem "schwarzen Montag"
erleichtert zu Wort, und ist "froh, dass der Kelch an uns vorübergegangen
ist" (WAZ, 3.11.2008), und hofft, dass "der Spuk der Zusammenarbeit
mit der Linkspartei vorbei sei" (WAZ 10.11.2008) .
Clement ist nicht nur Aufsichtsrat bei RWE Power AG, sondern auch bei der Dussmann-Gruppe, beim Zeitarbeitsunternehmen DIS und beim
Zeitungsverlagskonzern DuMont-Schauberg, dem die
Frankfurter Rundschau zu 50,1 Prozent gehört. Er ist Mitwirkender des
"Konvent für Deutschland", einem Beratergremium für die Politik, und
Organ des "Klassenkampfs von oben", dem zum Beispiel Klaus von Dohnany, Roman Herzog, Oswald Metzger, Jutta Limbach und
Otto Graf Lambsdorff angehören, und von FRAPORT, TUI, Linde, Continental,
Porsche, WestLB, RWE, Deutsche Bank und vielen
anderen finanziert wird.
Eng verwandt mit diesem Gremium ist die
"Initiative neue soziale Marktwirtschaft", für die Clement auch aktiv
ist: eine PR-Agentur für neoliberale Politik, die Fortsetzung der Agenda 2010,
verflochten mit Forschungsinstituten und finanziert von Gesamtmetall und
Elektroindustrie - elitäre Lobbyorganisationen des Kapitals, deren Ziel es ist,
den ideologischen und kulturellen Boden für marktradikale Reformen zu bereiten.
Die SPD-Kamarilla steht für die Fortsetzung neoliberaler Politik nach Schröder
in der großen Koalition, und diesen Kurs an der Macht will die SPD-Führung mit Steinmaier als Kanzlerkandidat weiter fortsetzen. Und dies
unabhängig davon, dass Spitzenkandidaten des "rechten" Flügels wie Sigmar Gabriel in Niedersachsen (Verlust von 15 Prozent
2003), Gerhard Bökel (2003, schlechtestes
Wahlergebnis seit 1945 in Hessen), Franz Maget 2008
(schlechtestes Ergebnis seit 1945 in Bayern) oder Peer Steinbrück
2005 (schlechtestes Ergebnis seit 1954 in Nordrheinwestfalen) alle Wahlen der
letzten Jahre verloren haben. Am 3.November 2008 war in Hessen exemplarisch in
einem "Lehrstück in Demokratie" zu besichtigen, wie ein nur
linksreformistisches Projekt, dass im besonderen Fall des Flughafenausbaus nur
die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens garantieren wollte, auf mächtige
Interessen stößt und mit allen Mitteln zum Scheitern gebracht wurde.
Quellenangaben zu diesem Artikel: ARD, Hessenfernsehen HR, Frankfurter
Rundschau, die Süddeutsche, FAZ, Welt, WAZ, Wirtschaftswoche, Financial Times,
Handelsblatt, Spiegel, die Zeit, Presseerklärungen der Parteien und
Bürgerinitiativen gegen Flughafenerweiterung u.a.
Quelle:
http://germany.indymedia.org/2008/11/234057.shtml
http://wolfwetzel.wordpress.com/
http://waldbesetzung.blogsport.de/2008/12/03/der-hessenkrimi/